montblanc starwalker

von Christina Viragh

Schreiben von Hand

 

In einem Supermarkt in meiner Nähe, der fast sprichwörtlich um die Eck’ steht, oder jedenfalls an der Ecke der Parallelstrasse, muss man aus unerfindlichen Gründen den Kassenzettel immer noch von Hand unterschreiben, wenn man mit der Kreditkarte zahlt. Im Übrigen ist der Supermarkt durchaus auf der Höhe, ja, mehr auf der Höhe als die anderen in meiner Umgebung, in denen man schon längst das PIN-System eingeführt hat, während es mit dem Angebot von Bioprodukten hapert. Im handschriftlichen Supermarkt hingegen findet man selbst während der grössten Augustflaute Bio-Zucchine und Bio-Tofu und ungespritzte Zitronen. Ich weiss nicht, ob ich das in einen Zusammenhang bringen soll, das Handschriftliche und die Bioprodukte, etwa in dem Sinn: Wo noch von Hand geschrieben wird, ist auch die Pflege des Angebots sorgfältiger. Nein, natürlich nicht. Natürlich hat das Unterschreibenlassen des Kassenzettels irgendwelche administrativen Gründe, und aus anderen Gründen verfolgt das Unternehmen eine kluge Warenpolitik. Nur ist eben der Zusammenhang schon da, ich brauche ihn gar nicht eigens herzustellen. Das ist der gute kleine Supermarkt, wo ich die Bezahlung von Bio-Zucchine mit meiner Unterschrift bestätige. Es ist kein Kausalzusammenhang, aber doch einer der Gleichzeitigkeit, und in der Gleichzeitigkeit verweist das eine immer auf das andere. Umso mehr, als ich auch schon eine grosse Aubergine, ebenfalls biologisch, als Unterlage verwendet habe. 

Denn nichts unangenehmer, vom handschriftlichen Standpunkt gesehen nichts unangenehmer, als wenn man über die eingekauften Dinge hinweg das ansteigende Blech der Warenrutsche als Unterlage benutzen muss. Dazu noch mit einem dünnen Kugelschreiber. Wenn sie wenigstens einen Filzstift gäben. Es sind mir auch schon Unterschriften herausgekommen, die ich nicht einmal mehr als meine eigenen erkannt hätte. Ein spastisches Gekritzel, wie ich es doppelt nicht mag. Das Spastische daran verletzt meine Eitelkeit, ich habe doch sonst eine kraftvolle Schrift, ja, es gibt Leute, die vor ihrer Vehemenz erschrecken, ausserdem erinnert es mich an die Zitterschrift, mit der mir meine uralte Grossmutter eine Widmung in einen Band mit Goethe-Texten schrieb. Ich erinnere mich gern daran, an meine Grossmutter und an jene erste Begegnung mit Goethe, aber ich möchte noch nicht bei der Zitterschrift angelangt sein. 

Goethe, nebenbei, schreibt am 15. November 1786 aus Frascati: „Die Gesellschaft ist zu Bette, und ich schreibe noch aus der Tusch-Muschel, aus welcher gezeichnet worden ist.“ Unter einer Tusch-Muschel muss man sich wohl einen muschelförmigen Behälter vorstellen, bestimmt mit einem gut verschliessbaren Deckel. Denn „gezeichnet worden ist“ draussen, unterwegs in „dieser lustigen Gegend“, wie Goethe sie nennt, der sich auf seiner italienischen Reise befindet und unablässig zeichnet und schreibt, um denen zu Hause das Gesehene und Erlebte nahezubringen. Nicht auszuschliessen, dass er heute mit dem Smartphone unterwegs wäre, auch er hat den Impetus, alles zu registrieren, zu dokumentieren, zu kommentieren, seine eigenen Befindlichkeiten inklusive. Ein twitternder Goethe ist allerdings eine schauderhafte Vorstellung, aber nicht, weil man vom Dichterfürsten so etwas nicht denken darf, sondern weil dann die Tusch-Muschel aus dem Bild verschwindet. Sie ist, zum Mindesten für mich, das Interessanteste dieses Eintrags, solche Dinge will ich wissen, wenn ich die Italienische Reise lese: Welcher Gegenstände bediente man sich, mit welchen Hilfsmitteln kam man durch die Tage und die Nächte, und mir wäre es recht, wenn sich Goethe auch darüber ausliesse, wieviel „Tusch“ er auf die Feder nimmt, überhaupt, was für eine Feder, und auch, ja, was die für ein Geräusch auf dem Papier macht. Bloss sind die Geste und dieser wahrscheinlich schöne Gegenstand, der Ausdruck Tusch-Muschel suggeriert jedenfalls Ästhetik, für Goethe leider so selbstverständlich, dass er nichts dazu sagt. Nur gerade die Tatsache, dass die Muschel an dem Tag zweimal, zu verschiedenen Zwecken, verwendet wird, findet er erwähnenswert. Vielleicht will er damit herausheben, dass er eine Menge gezeichnet hat, oder vielleicht schwingt mit, dass es ihn doch ermüdet, dieselbe Tusch-Muschel jetzt auch noch zum Schreiben gebrauchen zu müssen. Die anderen sind ja schon im Bett, und er hat noch diese Schreibpflicht. Auch darin ist er wohl den heutigen Twitternden nicht unähnlich: Mit Freunden und Bekannten in dauerndem Kontakt stehen ist schön und gut, aber wahrscheinlich würden es doch manche als Erleichterung empfinden, das Erleben nicht sofort vertexten zu müssen. Auch Goethe steigt manchmal aus: „Wie viel hätte ich jeden Tag zu sagen, und wie sehr hält mich Anstrengung und Zerstreuung ab, ein kluges Wort aufs Papier zu bringen...“

Bleiben wir in diesem Fall also noch kurz bei meiner Kritzelunterschrift, an der mich, abgesehen von ihrer mich über meine Grossmutter zu Goethe führenden Zittrigkeit, noch mehr stört, dass sie unleserlich ist. Ich mag unleserliche Unterschriften nicht, jene waagrechten Striche mit eventuell irgendwo einem i-Punkt, oder jene durch keine Buchstabenform motivierten Schlaufen, oder jene, die aussehen wie die Grafik eines Herzschlagmonitors. Abgesehen davon, dass sie vielleicht eine Scheu verstecken, ein Nicht-zu-sich-Stehenkönnen, sind sie prätentiös. Sie wollen sagen, wie ungeheuer oft der Unterschreibende unterschreiben muss, dauernd legt man ihm etwas vor, Verträge, Vereinbarungen, internationale Abkommen, da kann er sich nicht mit der Ausformung der einzelnen Buchstaben aufhalten. Das mochte vor langer Zeit an der Uni gelten, als die Professoren noch Hunderte von Testatheften zu signieren hatten, wofür sich die Gewitzteren Stempel mit ihrer Unterschrift machen liessen, aber im Übrigen leuchten mir die hingeworfenen Unterschriften nicht ein. Ich schaute einmal dem seinerseits vielleicht nicht ungeheuer wichtigen, wer ist das schon, aber doch bedeutenden ungarischen Schriftsteller Péter Nádas beim Signieren seiner Bücher zu. Da war eine lange Schlange vor seinem Büchertisch, und er sass sicher gute zwei Stunden daran. Nicht nur war jedes einzelne seiner Autogramme klar und deutlich, sondern er schrieb auf Wunsch auch Widmungen ins Buch. Für Onkel Robert eine gute Besserung. Aber das ist die Demut des Schriftstellers, um ein altmodisches Wort zu gebrauchen. Und wenn auch nicht jeder Schriftsteller ein demütiger Mensch ist, bei Weitem nicht, so ist wohl doch allen eine Achtung vor dem geschriebenen Wort eigen. Vor dem geschriebenen Wort auch im konkreten Sinn, der Aneinanderreihung von Buchstaben, dem Wortbild. Etwas einfach hinschmieren, das geht nicht. 

Nehme ich jedenfalls von meinen Kollegen an, auch von denen, die nur mit dem Computer schreiben. Ich meinerseits schreibe meine Bücher von Hand, kopiere sie erst in einer zweiten Arbeitsphase in den Computer. Von Hand Schreiben ist ein sinnliches Vergnügen, ja. Auch für mich, und ich freue mich, wenn die Wortbilder hübsch herauskommen. Das heisst aber nicht, dass ich mölele, wie man bei uns in der Primarschule sagte, die Buchstaben sorgfältig hinmale. Dafür hätte nicht einmal ich die Zeit. Wenn ich den Satz in meinem Kopf formuliert habe, schreibe ich ihn rasch nieder, und wenn dabei Wörter hübsch herauskommen, so wahrscheinlich nicht nach gängigen Kriterien. Hübsch heisst für mich, dass sie eine Leichtigkeit, einen Schwung haben, die dem Gedanken entsprechen. Nicht dem Inhalt des Gedankens, sondern der Tatsache, dass der Gedanke ein Gedanke ist, etwas Leichtes, Flüchtiges, und doch eingebunden in einen Gesamtzusammenhang.

Von Hand schreibe ich aber auch, weil ich nicht möchte, dass mich jemand beim Denken anstarrt. Der Bildschirm starrt dich an und wartet auf den nächsten Satz. Das Papier ist geduldig, dem alten Ausspruch muss man in der computerisierten Zeit noch diese Bedeutung hinzufügen. Dass es dich nicht erwartungsvoll anstarrt, sondern geduldig auf dem Tisch liegt. Zu geduldig vielleicht, es gibt ja die berühmte Blockierung durch das leere weisse Blatt. Bis jetzt hat sie mich nicht ereilt, und das liegt vielleicht daran, dass vor mir zwei Blätter liegen. Das geduldige weisse direkt vor mir, daneben ein anderes, auf dem ich drauflos schreibe, alles, was mir zur Sache einfällt, auch das Entlegenste, ein hemmungsloses Brainstorming. Das macht den Übergang aufs leere Blatt leichter, vom Kugelschreiber ist der Deckel schon abgenommen, er ist schon eingeschrieben, ich werde beim ersten Buchstaben nicht mehrmals ansetzen müssen, bevor die Tinte fliesst. 

Es ist eben kein edler Kugelschreiber, aber doch solid, schwarz, mit breiter, leicht gleitender Spitze, und kostet immerhin zwei Euro fünfzig. Ich kaufe ihn, immer den gleichen, in der Cartoleria, die ihrerseits wiederum wenn nicht um die Eck’, so an einer nahen Ecke steht und im Schaufenster neben Kalendern, Geschenkpapier, Musikdosen, Agenden, kleinen Plüschtieren auch Uhren und teureres Schreibgerät anbietet. Die Cartoleria gibt es seit 1939 in unveränderter Form, was vielleicht nur noch in Rom, wo ich lebe, möglich ist. Ich verlange jeweils vier Stück von dem soliden schwarzen Kugelschreiber, wozu der Cartoleria-Besitzer, falls im Behälter auf dem Ladentisch nicht genügend vorhanden sind, in ein Lager hinuntersteigen muss. Es ist mir nicht recht, ich sage ihm auch, es sei mir nicht recht, aber er besteht darauf, meinen Wunsch zu erfüllen. Meinen Wunsch, meinen Tick, wie man sie beim Schreiben entwickelt. Ich fühle mich nur sicher, wenn drei Kugelschreiber in der Schublade in Reserve liegen. Es darf oder dürfte sie auch niemand berühren, was aber schwer durchzuführen ist. Vor allem bei dem, der gerade im Gebrauch ist und nach der Schreibzeit oben auf den Brainstorming-Blättern in Bereitschaft liegt. Der wird dann doch plötzlich für das Notieren einer Nummer oder, noch schlimmer, für Telefonkritzeleien verwendet. Wie soll ich auf die Art wissen, wieviel Tinte in meinen Text geflossen ist. Dass das völlig belanglos ist, entgeht mir nicht, aber es entspringt wohl dem Wunsch, den sonst nicht wirklich fassbaren Vorgang des Schreibens zu quantifizieren. Dreihundert Seiten geschrieben, zwanzig Kugelschreiber verbraucht. Nach Abschluss des Manuskripts tat es mir einen Moment lang leid, die verbrauchten Kugelschreiber nicht aufbewahrt zu haben, aber im folgenden Moment erkannte ich doch die narzisstisch getönte Lächerlichkeit dieser Idee. Verbrauchte Kugelschreiber als Trophäen an der Wand, das doch nicht. Ich sehe es aber nach wie vor ungern, wenn mit ihnen telefongekritzelt wird. Ich selbst kritzle auch, greife dazu aber nach einem anderen Schreibzeug, am liebsten nach einem Bleistift. Interessant ist dabei nur, warum man das tut. 

Warum kritzelt man. Es gibt Theorien dazu, etwa dass Kreativität und Konzentration damit gebündelt werden,  aber ich meine doch, dass auch Nervosität im Spiel ist. Die Stimme am Ohr macht einen nervös, dafür, dass sie körperlos ist, ist sie zu aufdringlich. Oder gerade weil sie körperlos ist, ist sie aufdringlich. So wie einen der Bildschirm unerbittlich anstarrt, so verlangt sie unerbittlich Aufmerksamkeit, und da muss man in beiden Fällen ins Handschriftliche ausweichen. Die Kringel und Dreiecke und Gesichter und Bäume und Tiere sind Hieroglyphen, die bedeuten, dass du, Stimme, die mir den ganzen Kopf füllt, doch nicht meine ganze Welt besetzen kannst. Da ist meine Hand, da ist ein Stift, da ist Papier, und mit deren Hilfe zeichne ich ein Bild von meiner Psyche, in dem du nicht vorkommst. Das wäre dann der tiefere Sinn der Doodle-Hieroglyphen, dass sie ein Text der Seele sind, dessen Interpretation jedoch auf ein Blatt gehört, das hier nichts zur Sache tut und wohl auch sorgfältiger geschrieben werden müsste, als was man bei einem Blick ins Internet findet. Dass Häuschen den coolen und Schlingen den sensiblen Typ verraten, ist wohl noch nicht der Weisheit letzter Schluss. 

Aber eben, hier geht es nur darum, dass das Schreiben von Hand, auch das Kritzeln, ein sicherer Hafen ist, wo man für die Konzentration, auf einen Text, auf eine Stimme, die Ruhe findet. Wollte ich mich doch zu Interpretationen versteigen, würde ich sagen, dass wir für Computer und Telefon nicht gemacht sind. Beide konfrontieren uns, zusätzlich zur Schwierigkeit des Formulierens und Verstehens, mit Abstraktionen, die wir nicht wirklich in diese Vorgänge integrieren können. Der Computer konfrontiert uns mit der vollkommen beliebigen Austauschbarkeit von Buchstaben und Wörtern, was diese zu abstrakten Einheiten macht. Das Telefon wirft uns fast buchstäblich einen auf eine Mitteilung hin abstrahierten Menschen an den Kopf. 

Wir sind fürs Konkrete gemacht, meinte ja auch der hier bereits erwähnte Goethe, dessen Vers von der grauen Theorie und dem grünen goldenen Lebensbaum ich in dem ebenfalls schon erwähnten, mir von meiner Grossmutter kraxelig gewidmeten Band las. So kraxelig wie ich im Supermarkt an der Ecke die Kassenzettel unterschreibe. Ich habe dabei auch schon zur Kassefrau hochgeschielt, ob sie dieses unleserliche Gestrichel akzeptiere, aber sie schaut jeweils gar nicht hin. Ihr genügt die Geste, das rituelle Ansetzen eines Stifts, wie es vielleicht nicht nur auf die Zeiten vor dem PIN-Code, sondern auf archaischere Epochen verweist. Wahrscheinlich haben unsere Urahnen mit etwas Stiftartigem Zeichen in Dinge aus Holz oder Stein oder Ton geritzt und sich damit den Gegenstand angeeignet. So wie ich mit meinem Gestrichel die Bioprodukte. 

Ich will nicht sagen, dass mir der Einkauf umso mehr zusteht, je ungelenk archaischer meine Striche sind, aber ich will auch nicht das Gegenteil sagen, dass das alles nichts miteinander zu tun hat. Es hat miteinander zu tun. So wie die Qualität des Angebots in dem Supermarkt mit dem Unterschreibenmüssen in einem Zusammenhang der Gleichzeitigkeit steht, so ist auch mein Gestrichel ein Zeichen, dass ich allen Schwierigkeiten zum Trotz entschlossen bin, die Waren an mich zu nehmen. Das ist bestimmt nur ein sehr schwacher Rest der Entschlossenheit unserer Urahnen, die ihre Zeichen, wenn sie sie denn machten, während des wilden Überlebenskampfs anbrachten, bedroht von Feinden mit Pfeilen, von Tieren, Vulkanausbrüchen, Krankheiten, Hunger. Oder vielleicht auch nicht. Goethe, wieder er, sagt von der Vergangenheit, sie sei ein Buch mit sieben Siegeln. Vielleicht machten unsere Ahnen die Zeichen in einem Moment ruhiger Einkehr und drückten damit weniger die Besitznahme aus als die Tatsache, dass das Schreiben von Hand und die Dinge der Welt konkret zusammengehören.