montblanc starwalker

Von Klaus Merz

Das Turnier der Bleistiftritter

„Über die Baulücken zieht blauer Himmel, die Schönheit der Brandmauern tritt schonungslos hervor. Eine Frau mit Einkaufstasche und Hund erobert die Ladenstrasse, der Marktfahrer singt sein Auberginenlied. An der Ecke bleibt ein Dreijähriger stehen, er notiert alles, was er hört, sieht und riecht, in sein gelbes Heft, die Mutter wartet. Sie weiss, die Wirklichkeit lässt sich nicht begreifen. Ausser vielleicht mit einem Bleistift in der Hand“, hielt ich vor Jahren, ebenfalls mit Bleistift, an der Rue Tiquetonne fest. 

Im Spätmittelalter, so die Legende, soll im englischen Cumberland ein Schäfer nach einem Sturm auf einen alten entwurzelten Baum gestossen sein, aus dem aufgewühlten Erdreich leuchtete eine tiefgraue Substanz. Sie schwärzte ihm die Hände und liess sich gut zur Kennzeichnung seiner Tiere gebrauchen. Der „Bleistift“ war gefunden. - Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts bewies dann der schwedische Chemiker Carl Wilhelm Scheele, dass die als Plombagine (Blei) bezeichnete Materie - wie auch der Diamant - nichts anderes als kristallisierter Kohlenstoff ist. Man gab ihr den Namen Graphit, abgeleitet vom griechischen Wort „graphein“, das soviel wie „schreiben“ heisst. Was aber dem Begriff „Bleistift“  schon keinen Abbruch mehr tat. 

Das schwarze Material wurde zu schmalen Stäbchen geschnitten, zwischen zwei Holzteile gelegt und fertig war der erste Bleistift. - Mit der Zeit wurden jedoch die „hochkarätigen“ Graphitblöcke der Cumberland-Grube rar. Und teuer: „Schwarzes Gold“. Schliesslich vermischten der Franzose Conté und fast zeitgleich mit ihm der Österreicher Hardtmuth gegen Ende des 18. Jahrhunderts gemahlenen und durch Ausschlämmen gereinigten Graphit mit feuchter Tonerde. Die daraus geformten Stäbchen wurden unter Luftausschluss im Ofen gebrannt. Die moderne Graphitmine war erfunden. Sie enthält im Gegensatz zu Blei kein Gift. - Der Bleistift als Muse und Mus zwischen den Zähnen aufgeregter Aufsatzschreiber und verzweifelter Rechnerinnen, auf der Zunge des Milchmannes, der seinen Eintragungen gegen Ende Monat in unserem Milchbüchlein jeweils etwas mehr Schwärze verlieh, war also von Anfang an unbedenklich. Wir hatten es immer gewusst!

Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurden dann in der Gegend von Nürnberg vermehrt Bleistiftfabriken gegründet. Während langer Zeit herrschte für die deutschen Manufakturen, wie vormals schon für die englischen Bleistiftmacher, ein regelrechtes Monopol. Erst nach dem 1. Weltkrieg machte sich auch im Ausland ernsthafte Konkurrenz bemerkbar. Und man hatte längst begriffen, dass die einzige Chance für eine erfolgreiche Bleistiftfabrikation darin bestand, die übliche handwerkliche Arbeitsmethode aufzugeben und sie durch neue, industrielle Techniken zu ersetzen. In dieser Zeit, nämlich 1924, übernahm Arnold Schweitzer in Genf eine kleine Bleistiftfabrik, er gab ihr den Namen Caran d’AcheFaber-Castell war zu diesem Zeitpunkt schon seit mehr als 160 Jahren im Geschäft. – Weitere fünzig Jahre danach zeichne ich in mein Notizbuch einen Mann, der ein Holzbein hat, unter seinem Hosenstoss hervor lugt an Stelle des linken Schuhs ein gespitzter Bleistift. Wiederum zehn Jahre später liefert Paul Nizon in seinen Frankfurter Vorlesungen die Legende zum Bild: Am Schreiben gehen. – Als ich die beiden Betriebe dann in Genf und Nürnberg besuchte, stellte ich fest: Es geht sich gut, auch an den Schreib-Geräten. Und die Belegschaft an den Blei- und Farbstiftstrassen wirkten beiderorts auffallend heiter und friedlich, sie bauen hier keine Kanonen.

1761 hatte sich der Schreiner Caspar Faber in Stein bei Nürnberg mit einer kleinen Bleistiftproduktion selbständig gemacht. Die deutschen Bleistifthersteller genossen zu diesem Zeitpunkt allgemein kein besonders hohes Ansehen. Es fehlte an Rohstoffen und es mangelte an Qualität. Die Stifte durften zudem anonym auf dem Markt erscheinen, was die Abhängigkeit von den Händlern entsprechend verschärfte. So kam es um 1800 herum immer wieder vor, dass Nürnberger Produkte unter die Leute gebracht wurden, die nur das Aussehen von Bleistiften hatten, jedoch bloss Hozstäbchen mit graphitgefüllten Enden waren: „Nürnberger Tand.“ Erst Lothar Faber (1817-1896) wendet das Blatt und den Bleistift. Er übernimmt die kleine Fabrik 1839 in vierter Generation, setzt entschieden auf Qualität, verfeinert das Ton-Graphit-Verfahren und steigert die Leistungsfähigkeit seiner Fabrik. 1856, als die englischen Vorräte des „schwarzen Goldes“ praktisch aufgezehrt sind, erwirbt Faber in Sibirien, nahe Irkutsk, ein Bergwerk mit dem besten Graphit der damaligen Zeit. – Er eignet sich auch für die Striche am Türrahmen, wenn man sich vor den Messerkerben scheut, um das Heranwachsen der eigenen Kinder zu verzeichnen. Der Bleistift liegt für die Massstriche stets auf der Zarge – und wird kleiner, die Töchter und Söhne wachsen.

Als erster Bleistiftfabrikant reist Lothar Faber höchst selbst mit einem Musterkoffer aus fein geschnitztem Holz durch die Lande und bietet seine Preziosen an – zu Preisen, wie sie bis anhin nur mit englischen Sorten zu erreichen gewesen sind. Er ist es auch, der als Schöpfer des sechseckigen Bleistifts gilt. Er legt für seine Stifte Länge, Stärke und verschiedene Härtegrade fest, die später von fast allen Fabrikanten übernommen werden. Und er gibt seinen Bleistiften einen Namen: A.W. Faber. Ein Schriftzug in Gold. 

Mit 45 Jahren wird er aufgrund seiner wirtschaftlichen und sozialen Verdienste geadelt und später zum Erblichen Reichsrat der Krone Bayerns ernannt. Dank seiner Petition tritt 1875 auch ein verbindliches Markenschutzgesetz in Kraft. Sein Firmenemblem zeigt ein Turnier von Bleistift-Rittern.

Karandasch. Der Rektor sprach das Wort mit K aus, unser Schulmaterialien-lieferant mit weichem G. Der Mann roch nach Farbe und Holz, ihm fehlte ein Finger: „Beim Bleistiftspitzen abgerutscht mit dem Messer, nehmt euch in Acht, benützt lieber die neue Spitzmaschine!“ Er montierte den silbernen Apparat an der vordersten Bank und spitzte. Der Rektor nickte. Unser Bleistiftumsatz stieg rasant an. Das Antreten mit dem Stummel in der flachen Hand, um einen neuen Bleistift zu erhalten, wurde in er Folge immer heikler, nachdem man auch die halblangen Stifte in der  Maschine lustvoll und zunehmend schneller herunterspitzte, um besser voranzukommen mit der allgemeinen Erneuerung: Karandasch! 

Als der St. Galler Unternehmer 1924 seine Firma gründete, benannte er sie nach dem französischen Karikaturisten Emmanuel Poiré (1859-1909). Der in Moskau geborene Enkel eines Offiziers der napoleonischen Armee hatte das russische Wort für Bleistift „Karandasch“ auf Französisch übersetzt und zu seinem Pseudonym gemacht: Caran d’Ache, ihm galt Schweitzers Bewunderung. – Wie aber kam von Faber zu seinem Castell ?

Als Lothar 1896 stirbt, erbt zunächst seine Frau das Unternehmen, danach seine älteste Enkelin Ottilie. - Sein einziger Sohn hatte sich in mittleren Jahren das Leben genommen. – 1898 heiratet Freiin Ottilie von Faber in ein altes deutsches Grafengeschlecht hinein. Da Lothar testamentarisch verfügt hat, der Name Faber solle dem Unternehmen für alle Zeiten vorangestellt bleiben, entsteht aus dem Bund mit Alexander Graf zu Castell-Rüdenhaus der Doppelname Faber-Castell. 

8B, der Weichste. Seit gut dreissig Jahren wird meine Arbeit von einem Zeichner und Maler begleitet. Heinz Egger „paraphrasiert“ meine Texte zeichnerisch, und er entwirft die Umschläge der Bücher, zumeist in Farbe. Ich lernte ihn mit schwarzen Händen kennen, er arbeitete damals ausschliesslich mit Graphit, das Format 150 x 210 cm. Was hält er vom „Blei“?

„Der Bleistift ist für mich so wichtig, weil er etwas Konjunktivisches an sich hat“, sagt Egger, „er grafiert nicht ein, sondern bleibt leicht und flüchtig, ist nicht pathetisch. - Mit dem Aquarell gönnt man sich etwas, mit Bleistift gönnt man sich nichts, kein Fleisch, kein Gemüse, der Bleistift ist wie Brot. - Er ist ein Alltagsgerät. Für die Nähe, für die tägliche Zettelwirtschaft. Auch ein Denkwerkzeug. Er ist ein lineares Instrument, durch seine Linie gibt er den Prozess des Arbeitens wieder, er macht durchsichtig, zeigt die Schichten. Mit der Kohle kann ich sofort in die Fläche gehen, aufdrehen, der Bleistift ist nicht orchestral und sein Strich bleibt a priori abstrakt, während die Farbe immer schon an Natur erinnert. - Vielleicht sprechen uns auch alte Zeichnungen deshalb direkter, „aktueller“ an, als manch altes Gemälde. - Der Bleistiftstrich ist ein verlängerter Nerv, er legt sofort bloss, deckt nicht zu. Zum Bleistift gehört auch das Papier, seine Beschaffenheit. Und trotz der „Grau-Beschränkung“ sind die Ausdrucksmöglichkeiten unendlich reich, vom fettesten Strich bis zur feinsten Linie sind alle Abstufungen möglich.“ Die totale Graphitfläche aber mache zu, werde zum Grauen, sagt Egger und fügt nach einer kurzen Denkpause hinzu: Der Bleistift ist mir halt von früher Kindheit her ein Begleiter, archaisch, archäologisch, der Erinnerung verpflichtet.

Das kalifornische Zedernholz dazu, astlos, gut spitzbar, wird noch immer in Form von Brettchen angeliefert, die auf die Länge eines Bleistifts zugeschnitten sind. Je nach Breite können daraus 5 bis 10 Bleistifte entstehen. Nach dem Hobeln und Rillen der Brettchen werden diese mit Leim bestrichen, die Minen in die Rillen des unteren Täfelchens eingebracht, das obere schiebt sich darüber. Pressen, trocknen. Die Hochleistungsfräse schneidet die einzelnen Stifte heraus, es folgen die Schutzlackschichten. Beschriften, stempeln, spitzen. Am Ende der Bleistiftstraße werden die Stifte von Auge und Hand kontrolliert. Noch immer wird hier in Dutzend und Gros gezählt. 

Ich selber trage immer auch einen Bleistift auf mir, er lagert in der blechernen Zigarettenschachtel unter einem Notiz- und Notfallblatt. Ohne dieses Set wage ich mich nicht in die Welt hinaus. Und so bleibt der Bleistift auch ein triftiger Grund, das Rauchen nicht vorzeitig aufzugeben. Nachts liegt am Kopfende des Bettes ein weiterer Stift parat. Für die Niederschrift der Träume. 

(Neubearbeitung der gleichnamigen Reportage; Klaus Merz, Werkausgabe, Bd. 4, Haymon Verlag, Innsbruck/Wien)