montblanc starwalker

von 

Ein unbeschriebenes Blatt 

Donnerstag, 28. Juli 2016. Entschlossen, endlich einen Anfang zu machen, hatte sich die Schreibende an den Tisch gesetzt. Nicht an ihren Schreibtisch, was vielleicht schon ein Fehler war, an den Gartentisch, da es ein so herrlicher Sommermorgen war, und da auch noch unbekümmert in die Sonne. 

In die Sommermorgensonne, die nicht heiß war, nur heilsam warm, nach einer schlimmen Nacht, in der es ihr auf einmal so schmerzhaft in alle Glieder gefahren war (es mußte die Nachwirkung eines sommerlichen Grippeinfekts sein), daß sie in einem Anfall von Hypochondrie allen Ernstes dachte, es könnte ihre letzte sein. Was es dann doch nicht war. So daß sie, nach ein paar Stunden tiefen Schlafs bis weit in den Morgen hinein, was ihr sonst kaum mehr gelang, jetzt an dem vertrauten Gartentisch saß, einen Rest Frühstückskaffee noch in der Tasse. 

Entspannt wie selten, dem Tag hingegeben wie selten. 

Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein...

Vor sich auf dem Tisch ein weißes Blatt Papier und – in schöner, geduldiger Diagonale auf dem unbeschriebenen Blatt liegend – ein gelber Bleistift Marke Caran d’ Ache. Ein Technograph 777 B, also einer von der weichen, sanften Sorte. Weich, sanft – Worte, die ihr einfielen, beim Anblick des Bleistifts. Und dann: dassanfte Gesetz

 

Stifters Erzählband mit dem Titel Bunte Steine, dem, wie sie sich erinnerte, sein Bekenntnis zum sanften Gesetzvorausging, hätte sie sich jetzt ins Freie holen können. Vielleicht hätte es ihr, unzeitgemäß wie es war in diesem unheimlich schwankenden, leicht gespenstischen Sommer – in dem man sich hätte einbilden können, nicht nur die Wetterstürze, auch die Wolkenbildungen (hatte es jemals solche Massen und Auftürmungen am Himmel gegeben?) seien Auswüchse einer verstörten Welt –, sogar in den Text hineingeholfen, den zu schreiben sie freundlicherweise aufgefordert war: zu einem Thema, das ihr, von weitem gesehen, voller Möglichkeiten schien, und zu dem ihr, als es ernst wurde, schlechterdings nichts einfallen wollte. Zu dem ihr auch jetzt nichts einfiel, obschon Blatt und Bleistift so einladend vor ihr lagen und ein so leicht anregendes Lüftchen wehte, und überhaupt das Thema „Schreiben“ doch geradezu ihr Lebensthema war, mindestens eines von ein paar ebenso wichtigen. 

Aber sie war, in dem alten Gartenstuhl mehr liegend als sitzend, zu träge um aufzustehen. Auch wollte sie ihren alten Hund, der neben ihr, ebenso hingegeben, in der Sonne schlief, nicht aufstören. Überhaupt diesen seltenen Moment nicht stören. Mehr noch war es ein Gefühl, als gelte es jetzt etwas einzuhalten, ein Abkommen, das wortlos getroffen worden war: ein Stillhalteabkommen zwischen ihr und dem Morgen, diesem Sommermorgen. 

Der selbst für das auch sonst nicht laute Dorf so still war, daß es einer Andacht gleichkam. Selbst die Autos, die auf der Dorfstraße gelegentlich vorüberfuhren, schienen behutsamer als gewöhnlich unterwegs. Und ein Nachbar, der sich in den Kopf gesetzt hatte, an diesem herrlichen Morgen seine rund um das Grundstück gehende Hagebuchenhecke mit einer lärmenden Motorraspel zu beschneiden, hatte schon nach wenigen Minuten, vorsichtig fluchend, alles wieder weggeräumt. Nicht weil ein anderer Nachbar reklamiert hätte, es war, so schien es, einzig und allein die Stille: für einmal in der Übermacht. 

Und daß die Spatzen sie nicht respektierten – so wenig wie die Meisenfamilie, unbekümmert von Gebüsch zu Gebüsch unterwegs, das Volk der Insekten, um den wilden Majoran summend, die Schwalben, zu ihren hellheiteren Kurven leise schmätzend, schwätzend in der blauen Luft, die Milane, höher droben, ohne Flügelschlag, von Zeit zu Zeit begeistert schreiend – störte sie nicht: die Stille. Erfüllte sie eher. 

Möglich, daß ein Rabe sie gestört hätte, aber die schwiegen auffallend heute Morgen, als seien auch sie einer unergründlichen Scheu verfallen. Wie das Kehrichtauto, das jetzt die Quartiersstraße heraufgefahren kam, so bedächtig, als gehöre das treuliche Anhalten bei jedem Abfallsack zur Feierlichkeit des Sommermorgens. Sogar die Flugzeuge, die in großer Höhe den Luftraum querten, zeugten jetzt nur fern und leise vom Rumoren des allgemeinen Weltverkehrs. 

Gab es einen idealeren Moment, um einen Text anzufangen? Doch Blatt und Bleistift lagen selber so still in der Sonne – blendendweiß das Blatt, einen schmalen Schatten werfend der Bleistift –, als wollten auch sie keinesfalls gestört sein in ihrer noch immer unbestimmten Erwartung.

Vielleicht hätte sie doch den Laptop nach draußen holen sollen. Vielleicht war dieses Von-Hand-Schreiben-Wollen ja ein zu künstliches Unterfangen, da sie doch längst angefangen hatte, alles von Beginn weg munter in ihren Laptop hinein zu formulieren, wo alles sogleich fix und fertig und paginiert wie auf einer Buchseite auf dem Bildschirm erschien, ganz anders als ihre Bleistiftsätze, die so unbestimmt in der Welt standen, wie wenn nie und nimmer etwas Endgültiges aus ihnen werden könnte. Wobei man dieses Fix- und Fertige dann auch jederzeit, wenn es sich zeigte, daß es beim zweiten, dritten Mal Lesen, oder wenn es gar ausgedruckt auf dem Papier stand, doch nicht Stich hielt, wieder löschen, ändern, auf alle mögliche Weise manipulieren konnte. Auf die Gefahr hin allerdings, daß über dem scheinbar schöpferischen Manipulieren, dem Gestalten und Umgestalten, die eigentliche Kreativität versandete, die Schreiblust erlahmte, der Text nicht mehr von der Stelle kam. 

Weshalb sie gedacht hatte, dieser Text zum Thema „Schreiben“ sei womöglich die Gelegenheit, sich von ihrer Abhängigkeit von einem zugegeben höchst eleganten, einschmeichelnd handlichen Ding der Marke Apple zu befreien, um mit ihrer alten, so schändlich vernachlässigten Handschrift – mit der sie heute, völlig verkrampft, nur noch schrieb, wenn ein entsprechender Anlaß ein persönlicheres Schreiben erforderte – noch einmal zu einer neuen Kreativität und, wer weiß, einem organischeren, schwungvolleren (ihr selbst und der Natur näheren?) Schreiben zu gelangen. 

Während sie aber noch überlegte, ob das ausdruckslose weiße Blatt, das sie aus dem Paket Druckerpapier genommen hatte, und der gelbe Allerweltsbleistift auch das passende Schreibmaterial waren – warum sollte ausgerechnet fürs Schreiben das Billigste gut genug sein, da doch jeder Maler geradezu einen Kult mit seinen Malwerkzeugen trieb, von den Musikern und ihren Instrumenten ganz zu schweigen? Ob sie also, statt hier tatenlos in dem ländlichen Tag herumzuhängen, nach Zürich fahren sollte, um sich das für einen schönen Text vermutlich nötige schöne Instrumentarium zu besorgen? – geschah auf einmal etwas anderes. Wurde das weiße Blatt zum Landeplatz. Keines Flugzeugs, natürlich nicht, auch keines Vogels, und schon gar nicht eines müde gejagten Smartphone-Monsters.

Eine Hummel war es, die sich, von der weißen Leere offenbar angezogen, die ihr wohltätig sein mochte nach all dem Grün und Blütenfarbenen, vertrauensvoll niedergelassen hatte, ein kleines Stück von dem Bleistift entfernt. Keine von den gemütlich großen, vernehmlich brummenden Hummeln, die es in der Gartenwildnis auch gab. Es war eine kleine Hummel. Ein Hummelkind? Oder einfach eine andere kleinere Art, doch genauso hummelmäßig gelb und weiß und samtschwarz gefärbt. Auf dem Blatt jetzt den ihr entsprechenden Schatten werfend. 

Ganz still saß sie da. Erschöpft von dem emsigen Leben, zu dem sie, anders als die am Tisch sitzende, verpflichtet war, seit Sonnenaufgang, und von dem ihr längst der kleine Kopf summen mochte? 

Nichts Schönres, sagte die Schreibende oder Schreibenwollende leise zu der kleinen Hummel, nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein...

Und: Mach mal Pause!

Lang hielt sie es aber nicht aus. Schon bald begann sie sich wieder zu regen und  mit sämtlichen Beinchen, sechs an der Zahl, ihren kleinen Hummelkörper zu pflegen. Von Kopf bis Hinterteil, zuletzt auch die bräunlichen, fein geäderten Flügel. So heikel-zart das Geschöpf, so sicher das Gefühl für den eigenen Körper – und so hingebungsvoll der Drang, ihn vom geringsten Stäubchen zu reinigen, um für das Leben an diesem Tag, die Lebensaufgabe (für wie viele Sonnentage wohl?) fit zu sein.

Denn fit sein mußte allerdings, wer mithalten wollte in dem pausenlosen Treiben unter der Sonne. So daß vielleicht doch eher als Stifters sanftes Gesetz auch für dieses kleine paradiesische Stück Wildnis, mit der sich die größere Gartenwildnis bis in den Kies des Sitzplatzes vorgearbeitet hatte – jeden Sommer, da man ihr nicht energisch genug entgegentrat, ein weiteres kleines Stück –, jenes unsanfte, ganz und gar zeitgemäße des survival oft the fittest galt? 

Nur sah es nach Lebenskampf, Überlebenskampf überhaupt nicht aus. Noch kein einziges Mal, seit sie, mit der Sanftmut einer Wiedergenesenen, das kleine Stück Wildnis betrachtete, hatte es einen Kampf um einen Blütenkelch gegeben. Vielleicht weil es genug von ihnen gab. Wohl steuerten gelegentlich zwei Insekten gleichzeitig dieselbe Majoran-Blüte an, doch ehe es zu einem Konflikt kam, wich die eine, oder wichen gleich beide zusammen aus zu einer anderen Blüte, ohne Aufheben, leichthin, als spiele das doch keine Rolle. Da ging es bei den Schmetterlingen, die etwas weiter entfernt um den Sommerflieder beschäftigt waren und nur gelegentlich zu Besuch kamen bei dem gewöhnlicheren Majoran, schon herausfordernder zu. Und richtig aggressiv konnten bekanntlich Libellen (es gab hier augenblicklich keine) ihren Luftraum über einem Tümpel verteidigen. Doch auch bei den Schmetterlingen schien es eher ein Spiel zu sein, höchstens eine Art Kampfspiel, das an diesem Sommermorgen die Grenze zum Kampf, gar zum Krieg keinesfalls überschreiten durfte. 

 So daß ihr, weit passender als Darwins unerbittliches Gesetz, jetzt Gottfried Kellers poetisches Wort vom Tanzen im Weltlicht hätte einfallen können. Überhaupt Kellers Weltfrömmigkeit: 

          

An dich, du wunderbare Welt, 

Du Schönheit ohne End’,

Auch ich schreib’ meinen Liebesbrief

Auf dieses Pergament.          

 

Worin erstaunlicherweise Ingeborg Bachmann, eine Schriftstellerin, die ihr sonst gar nicht besonders nahe stand, ganz gleichgesinnt, wenn auch selbstverständlich anders im Ton, einstimmte mit ihrem Sonnenhymnus und mit dem nun schon mehrfach in den Tag gedachten und gesprochenen Satz: Nichts Schönres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein...

 

Da – war die kleine Hummel wieder weggeflogen! Weg von dem weißen Blatt, wo sie in ihrer Vereinzelung so gut zur Geltung kam – sich wieder unter ihresgleichen und in das allgemeine Treiben mischend. Aber kam sie da nicht noch besser zur Geltung? 

Wobei sich in der Noch-immer-nicht-Schreibenden nun ein alter Wunsch regte. Er hatte sich schon an den unterschiedlichsten Orten geregt. Früh schon einmal bei inständiger Wahrnehmung des Gartens und des Dorfs ringsherum. Später eher in urbanen, von größeren Menschenbewegungen belebten Szenerien: unter südlicher Sonne auf einem der berühmten alten Plätze Roms etwa. 

Und erst unlängst beim Anblick eines Seeufers, wohin sie mit ihrem Hund, seinem Alter entsprechend langsam, spaziert war. Und wo an jenem Morgen in dem seichten, von der Sonne bereits erwärmten Wasser dicht am Ufer unzählige Fische, lauter Flußbarsche (besser bekannt als Kretzer, Egli) zusammengekommen waren, in allen Altersstufen: von den kleinsten, eben erst zu richtigen Fischchen gewordenen, die noch in dichten Schwärmen zusammenhielten, bis zu den ausgewachsenen Einzelgängern mit ihren rötlichen Flossen, zwischen denen Halbwüchsige in allen Größen kreuzten und sich mitbewegten. Manchmal entschieden zu zweien: sich mutwillig neckend, zwickend am Schwanzende, dann wieder in so vollendeter Parallele (als gelte es eine Kür!), daß sie gedachte hatte, es müsse auch unter den Fischen, jedenfalls wenn sie jung waren, regelrechte Freundschaften geben. 

Vor allem jedoch sich inständig gewünscht hatte, dieses von offensichtlicher Lebensfreude bewegte Miteinander und Durcheinander im seichten sonnigen Wasser, und auf dem Grund Schatten Werfende, dem sie gebannt folgte, würde unmittelbar und aus eigenem Antrieb zum Text werden, einem genau so beweglichen, lebendigen. In Sprache verwandelt, aber da. Und so auch für andere lesbar. 

 

Ein, zugegeben, närrischer Wunsch, der auch bestimmt nur einem Wesen der menschlichen Spezies in den Sinn kommen konnte, wo doch alles schon in der Wirklichkeit da war: aufs Schönste, Lebendigste!

Und doch spürte sie ihn gerade wieder als wahrscheinlich uralte Sehnsucht, während sie mehr und mehr – in ihrem süßen Nichtstun vielleicht schon zu weit von der agilen Wachheit, die das Schreiben doch auch erforderte, entfernt – in den Anblick der kleinen Gartenwildnis im Kies des Sitzplatzes versank. Wohin auch die kleine Hummel wieder zurückgekehrt war. Zurück in das grüne und blütenfarbene, von der Sonne gewärmte, glühende, glänzende, von einem leichten Windchen bewegte, fächelnde, schwankende, von Bienen, Hummeln, Wepsen aller Art und manchmal einem Schmetterling oder einem Hummelschwärmer, ja: umschwärmte! Stück Gartennatur...

Das ja, weit mehr als einem Kampf aller gegen alle, dem sanften Gesetz Stifters zu folgen schien: diesem in Natur, Kunst und sogar in der Gesellschaft gleichermaßen geltenden, nach des Dichters Auffassung einzig lebenerhaltenden Zusammenspiel aller mit allen. 

Worin sich aber vielleicht auch nur etwas weit Umfassenderes, mit Gesetzen nicht faßbares, verkörperte. Vielleicht jene Weltseele? Von der in größerer geselliger Runde an diesem Tisch, wo sie jetzt allein saß, erst vor kurzem ein Freund, ein schon hochbetagter, doch offener denn je, als Mediziner im übrigen alles andere als ein Schwärmer, gesprochen hatte. Und wie es ihm jetzt im Alter zunehmend selbstverständlich werde, daß alle Lebewesen von ihr getragen und durch sie verbunden seien. Daß wir also, sagte er wörtlich, mit einem freundschaftlich versonnen Blick auf ihren alten Hund: gleichsam in ihr leben, weben und sind...  

Was war es an diesem Sommermorgen anderes als ein solches Leben und Weben?  

Zu dem schon seit einer Weile auch ein Gespräch gehörte. Dem sie beiläufig folgte, ohne etwas Genaueres zu verstehen. Sie hörte nur die zwei Stimmen vom oberen Teil des Dorfs: die eine, ihr bekannte, der Nachbarin und eine ihr unbekannte männliche Stimme. Einer der Nachbarn konnte es nicht sein, deren Stimme hätte sie erkannt. Aber es schien doch auch ein Dorfbewohner zu sein, jedenfalls klang das Gespräch wie etwas, was sich zufällig ergeben hatte, im Vorbeigehen. Und das sich, obschon man sich gut kannte, nicht täglich ergab. Danach jedenfalls klang der Wunsch, mit dem sich die männliche Stimme nun verabschiedete, schon im Weggehen offenbar und etwas lauter, da es von der Kirchturmuhr, noch höher droben, gerade elf Uhr schlug: Ich wünsche dir eine gute Zeit!

Das gleich darauf beginnende Elfuhrläuten beendete jetzt aber den magischen Augenblick. Auch mahnte es sie, endlich doch an ein ernsthaftes Tagewerk zu gehen. 

Hatte sie aber nicht soeben selbst, dachte sie, als sie Blatt und Bleistift wieder auf den Schreibtisch legte, eine gute Zeit gehabt – während sie, hingegeben dem Sommermorgen, von einem schönen Text wenigstens geträumt hatte?