montblanc starwalker

Ein gebrochenes Herz ist die beste Diät,
oder wie man es vermeidet,
einen Abschiedsbrief zu verschicken

von Patrick Findeis

 Hinter der Brandmauer der Hafen, die Möwen in ihrem Flug vor dem wolkenschweren Himmel, ihr Geschrei in der Dämmerung, die sich über den Bahnhof senkt. Die Luft eine einzige Brise - die den verstreuten Verpackungsmüll über den Bahndamm bewegt ohne Eile -, der Geruch wie ein Gruß aus der Kindheit. Auf der Fahrt hat Frankie das Meer beobachtet, das kurze Aufbrechen der Wolkendecke und die Sonne, die im Atlantik versank; ihre Reflexion in den Wellen wie ein verstreuter Blitz. 

Der Motor des Zuges wird angelassen, um zurück nach Cork zu fahren, wo Frankie eingestiegen ist. Von Endstation zu Endstation – Hin und Her - Pendelverkehr. Er kennt noch den Weg zum Haus seiner Großmutter, auch wenn er fünfzehn Jahre nicht mehr hier gewesen ist. Er muss nicht auf seinen Vater warten, der geschrieben hat, dass er ihn abholen kommt. Er hat sich auf der Fahrt vorgestellt, wie er ihn bei der Ankunft in Cobh durch die verschmierten Scheiben des Zuges entdecken würde, in einem seiner alten Anzüge, der ihm mittlerweile vier Nummern zu groß ist, ein Ire unter Iren. Natürlich aber ist er nicht da. Und nachdem alle Passagiere aus- und eingestiegen sind und sich der Bahnsteig geleert hat, lehnt Frankie sich an einen Pfosten und beobachtet den Eingang des Bahnhofs.

 Die schmalen Gehwege, die schmale Fahrbahn, die schmalen Häuser, alles wirkt wie gerade hergerichtet und aufgeräumt, der gusseiserne Zaun um die Hafenpromenade ist frisch gestrichen -, der viktorianische Pavillon, die historischen Kanonen glänzen matt im verlöschenden Licht: früher war hier überall der Lack ab. Jetzt sind selbst die Autos groß und neu, und Frankie weiß, dass ist nicht mehr das Dritte-Welt-Land seiner Kindheit. Er denkt zurück an die Abende erschlagender Müdigkeit nach einem uferlosen Tag ohne Ziel unter freiem Himmel; an die Ruinen hinter meterhohen Brombeersträuchern, in denen die Geister gefallener IRA-Kämpfer der Freiheit Irlands harren; die Labyrinthe in den wahllos aufgetürmten schimmelnden Heuballen in den Scheunen der verlassenen Höfe; an die aufgeschürften Hände und Knie vom Klettern über die Natursteinmauern, die die Felder begrenzen. Sein Vater hat ihm das neue Irland erklärt und beschrieben in den dutzenden Briefen, die er ihm in den letzten Jahren geschickt hat. In seiner wunderbaren, geschwungenen Handschrift, die eigentlich unleserlich ist, die Frankie dennoch entziffern kann, als wäre es seine eigene. Genauso problemlos wie er Englisch verstanden hat von frühester Kindheit an, ohne es in seinem Kopf noch übersetzen zu müssen. Obwohl es immer eine Fremdsprache für ihn geblieben ist, er seinem Vater nie antwortete auf Englisch, immer nur auf Deutsch. Aber wie die Sprache seines Vaters in ihn überging, ist auch die Handschrift des Vaters in ihn übergegangen. Frankie hat Schuhkartons voller Briefe seines Vaters. Bevor er lesen konnte, hat der Vater ihm bereits Briefe, Nachrichten geschrieben. Er glaubt manchmal, er hat anhand der Briefe seines Vaters überhaupt erst lesen gelernt. Und ihm ist aufgefallen in den Jahren, dass sein Vater stundenlang über nichts reden kann, aber wenn er einen Brief schreibt, dann geht es um Dinge, über die zu reden, ihm zu anstrengend sind; Dinge, die ihm so wichtig sind, dass er keinen Widerspruch duldet, zumindest keinen direkten.

Auf dem Dach der ehemaligen Gefängnisinsel in der Bucht blinkt ein Scheinwerfer: das letzte Licht vor Amerika, denkt Frankie und wendet sich ab. Er nimmt nicht den Umweg durch den Ort, wie er es vorgehabt hat. Vorbei an St. Coleman’s Cathedral, durch den Torbogen am Casement Square, zu den schmalen, bunten Häuser – Deck of Cards genannt -, die wie angeklebt wirken an die Gasse, die steil hinauf führt zu Top-Of-The-Hill. Den Touristenweg wollte er nehmen, der so schön hergerichtet wurde für die Menschen aus aller Welt, die mit den Kreuzfahrtschiffen hier ankommen drei Mal die Woche, für die extra das Hafenbecken ausgebaggert wurde. 

Frankie nimmt den Weg gleich links, der zu den steilen Treppen führt, die ihm als Kind wie ein unendliches, dunkles Treppenhaus für Riesen vorkamen. Die Burma Steps sind ihm erst vorhin wieder eingefallen. Es liegt hier nicht mehr ganz so viel Müll. Nur vereinzelt noch Crispsstüten, Schokoriegelverpackungen, Bierdosen verstreut über die ungleichmäßigen Stufen, die in mehreren Windungen den Berg hinaufführen. Der modrig moosige Geruch aber ist immer noch derselbe. Das Blätterdach der Bäume ist dicht. Als er oben ankommt, muss er sich erst orientieren. Der Kiosk, an dem er früher Eis, Süßigkeiten und Chipsandwiches kaufte, ist verschwunden. An derselben Stelle steht jetzt eine KFZ-Werkstatt, auf deren Gelände fast nur SUVs geparkt sind. Ein Mechaniker grüßt ihn im Vorbeigehen. 

Die Statue der zum Himmel gefahrenen Mutter Gottes steht angestrahlt im Flutlicht, die Haut des pelzlosen Hundes, der über die Rasenfläche des Platzes humpelt, schimmert im bläulichen Licht der Strahler. Frankie kann das Elternhaus seines Vaters bereits sehen, in dem der seit fünf Jahren wieder wohnt, am Vorgarten geparkt der rote Toyota, der das älteste Auto Cobhs sei, wie er ihm geschrieben hat in einem seiner ersten Briefe von hier – der einzige Wagen mit einer Erstzulassung im letzten Jahrtausend. Der Hund tritt mit nur drei Beinen auf, an seinem Vorderlauf schlackert die Pfote, als sei sie abgebrochen vom Rest des Beines und nur noch durch Haut und Sehnen und Bänder verbunden. Er schnüffelt, umkreist einmal die Statue, setzt sich vor sie, und fast wirkt es, als bete er - die kaputte Pfote baumelnd vor seiner Brust. Der Hund gähnt und hebt das Hinterteil, ohne den Blick von der Heiligen Jungfrau zu nehmen. Langsam schiebt sich ein Würstchen zwischen seinen zitternden Hinterläufen ins Freie, schwingt für einen Moment hin und her, bevor es auf den Rasen fällt. Der Hund verharrt in seiner Position, als müsse seine Verletzlichkeit ihn nicht kümmern im Antlitz Marias, deren Liebe er sich gewiss sein kann. In scheinbarer Demut drückt der Hund noch ein Würstchen heraus und humpelt davon, sein Produkt und die gnädige Frau vergessend, unter deren Obhut er gestanden hat.          

Frankie klopft an die hölzerne Tür, aber niemand öffnet. Durch den Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen im Wohnzimmer dringt Licht nach draußen, etwas bewegt sich im Inneren. Er erinnert sich, wie sein Vater eine Überraschungsparty für ihn veranstaltet hat zum zwölften Geburtstag, wie er die Lehrerin überredete, ihn aus irgendeinem nichtigen Grund als Einzigen nachsitzen zu lassen, damit ihn die Freunde zuhause empfangen konnten. Frankie lächelt und klopft erneut und lauter, und als sein Vater öffnet, steht er allein im unbeleuchteten Flur, die Augen rot unterlaufen, und sagt: Du bist schon angekommen. 

Keine Frage, nur die Feststellung einer Tatsache. Er lacht und Frankie hebt die Schultern. Für einen Moment kann er nicht unterscheiden, ob sein Vater seltsam weit entfernt von ihm steht, oder ob er geschrumpft ist in den Jahren, die sie sich nicht gesehen haben. Er wirkt auf den ersten Blick wie ein Junge mit Vollbart und grauen Haaren.

Von dir ist ja gar nix mehr übrig, sagt Frankie und sein Vater blickt kurz an sich herab.

Ich wollte dir eigentlich was kochen, sagt er dann und macht einen Schritt zur Seite. Es riecht nach Torffeuer, nach Bratfett und Schwarztee im Inneren des Hauses. 

Dein Zimmer ist auch noch nicht fertig, sagt sein Vater. 

Bist du krank oder nur zu faul, dir was zu essen zu machen? fragt Frankie.

Ich hätte alles schön haben können, sagt sein Vater und Frankie weiß, was er meint, als er durch den Flur und in die Küche tritt und die sechs leeren Bierflaschen neben dem aufgeschlagenen Kochbuch auf dem Tisch betrachtet, der ansonsten überfüllt ist mit Papieren und Zetteln, Briefumschlägen, seitenweise beschriebene Bögen. Auf der Anrichte neben der Gartentür das gerahmte Portrait seiner Mutter, das auch Frankie zuhause hat. Frankie nimmt eine der Flaschen vom Tisch und betrachtet das Etikett.

Von Lidli, sagt sein Vater, das gleiche wie bei euch in Deutschland.

Lidl, sagt Frankie.

Ja, Lidli, sagt sein Vater.   

Frankie sieht sich um in der Küche, die speckig glänzt, wie von einem Fettfilm überzogen. Er denkt an seine Großmutter und wie sauber sie die Küche immer gehalten hat, dass er sie nicht Oma hat nennen dürfen, weil sie nicht genannt werden wollte wie das Waschpulver Omo, mit dem sie Kleider wusch. 

Wir trinken was, sagt sein Vater und öffnet den Kühlschrank und nimmt ein Bier heraus, dreht den Kronkorken ab und reicht die Flasche weiter. 

Sie stoßen an und trinken und sein Vater hat sein Bier in vier Schlucken geleert. Frankie betrachtet ihn, wie er sich die Lippen leckt. Es ist still im Haus, kein Fernsehen, kein Radio, nur das Knacken des PVC unter ihren Füßen, wenn sie sich bewegen.

Die Reise war gut? fragt sein Vater.

Wenn Du hier im Zug einen Sitzplatz reservierst, steht da am Platz dein Name, sagt Frankie, wusstest du das?

Du hättest mit dem Bus fahren sollen, wie ich es dir gesagt habe, sagt sein Vater.

Da stand an meinem Sitz nicht „Dublin – Cork“ in der Anzeige, da stand „Frank Cunningham“, sagt er, ist doch verrückt, weiß doch keine Sau, von wo bis wo Frank Cunningham fährt.

Aber woher soll man sonst wissen, wo wer sitzt, sagt sein Vater, ist doch nur logisch, hebt die Schultern und nimmt sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank, der übervoll mit Lebensmitteln und Bier und Weißwein und Saft ist. 

Ich mach dir ein richtiges Frühstück morgen, sagt sein Vater.

Musst Du nicht zur Arbeit? fragt Frankie.

Ich muss das Feuer in Gang bringen, sagt sein Vater und geht aus der Küche. 

 Das Wohnzimmer sieht aus wie damals, als Frankies Großmutter noch gelebt hat. An der Wand ein Portrait von John F. Kennedy, neben einem Bild von Jesus mit dem brennenden Herzen. Sein Vater stochert im heruntergebrannten Feuer und ein paar Funken stieben auf. Er wirft einen halben Klotz Feueranzünder samt Verpackung in die schwache Glut und zwei Barren Torf darauf, und setzt sich in seinen Sessel. Er greift in einen Eimer voller verschlossener Briefe, zieht einen heraus und betrachtet ihn. Er schließt kurz die Augen und wirft ihn dann ins Feuer. Er lächelt, als das Papier Feuer fängt.

Rechnungen verbrennen? fragt Frankie.

Der Vater schüttelte den Kopf.

Briefe an deine Mutter, sagt er. 

Hat sie dir die zurückgeschickt? fragt Frankie.

Ich hab mir fünf Jahre genommen, um alles aufzuschreiben, was ich ihr noch sagen wollte, sagt sein Vater. 

Ich kann dir ihre Adresse geben, sagt Frankie.

Ich hab ihre Adresse, sagt sein Vater und wirft noch einen Brief ins Feuer. Er steht auf und verlässt den Raum. Frankie hört ihn in der Küche, wie er den Kühlschrank öffnet und wieder schließt, wie er mit einem Topf klappert.

Ich mach uns ein paar Spiegeleier und Baked Beans, ruft er.

Frankie beugt sich über den Eimer und greift einen der Briefe heraus. Er ist adressiert an seine Mutter in Tübingen. Alles, was sein Vater schreibt, ist mit seinem Füller geschrieben. Auch Einkaufszettel, Nachrichten, wenn er mal kurz irgendwohin geht. Der Füller ist das einzig Wertvolle, das sein Vater besitzt. Ein Montblanc Meisterstück. Er hat ihn sich mit einer Abfindung gekauft, die er nach einer Kündigung bekam. Und er hat davon geträumt, jetzt endlich einen Roman zu schreiben, jetzt Schriftsteller werden zu können, nachdem er nicht mehr jeden Tag zum Siemens zur Schicht gehen musste. Achthundert Mark oder tausend Mark hat der Füller gekostet. Hellgrünes Edelharz, vergoldete Spange, usw. Seine Eltern haben sich damals gestritten wegen dem Geld. Sein Vater hat mitten im Streit den Schrank in der kleinen Küche ihrer Wohnung geöffnet und auf den Inhalt gezeigt und gesagt: wir haben noch Kartoffeln, wir haben noch Tee und Milch, so schlimm kann es um uns nicht stehen. 

Die Farbe der Tinte, mit der er schreibt, ist Irish Green. Auch seit immer schon. Der Schreibwarenladen in Heidenheim hatte für ihn immer ein Fässchen unter der Ladentheke auf Vorrat. Frankie legt den Brief zurück und nimmt einen anderen. Sie sind alle an seine Mutter adressiert. So akkurat gleicht sich jedes Adressfeld, als sei es gedruckt, als benutze der Vater einen Stempel, der nach einer handgeschriebenen Vorlage geprägt worden ist. 

Dinner is ready, ruft sein Vater aus der Küche. 

Auf dem Tisch stehen zwei Teller mit Spiegeleiern und Bohnen, Toast und eine Kanne Tee, zwei Tassen. Sein Vater hat den Tee bereits eingeschenkt. 

Was wolltest du Mama alles noch sagen? fragt Frankie.

Ich kann noch eine Dose Bohnen machen, wenn die nicht genug sind, sagt sein Vater, Eier hab ich auch noch. 

Was steht da drin in den Briefen? fragte Frankie.

Der Vater beißt von einer Scheibe Toast ab und schiebt sich eine Gabel Bohnen in den Mund. Er kaut lange und langsam, trinkt dann einen Schluck Tee.

Deine Tante Mary kommt morgen oder übermorgen zu Besuch, sagt er, wir machen ein Barbecue, wenn das Wetter gut wird.

Okay, sagt Frankie.

Sie freut sich sehr, dich zu sehen, sagt sein Vater. 

Ich hab neulich erst mit ihr telefoniert, sagt Frankie.

Ich weiß, sagte sein Vater.

Was sind das jetzt für Briefe? fragt Frankie, wischt die Sauce der Baked Beans mit einem Stück Toast vom Teller, stellt ihn in das Spülbecken und nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er bekommt den Kronkorken nicht abgedreht, wie es sein Vater vorhin gemacht hat. Die Kante des Kronkorkens schneidet ihm in die Handfläche. Sein Vater schüttelt den Kopf, nimmt ihm die Flasche ab, öffnet sie und gibt sie zurück.

Aber trinken kannst du selber? fragt er.

Nicht so gut wie du, sagt Frankie, aber ich geb mein Bestes.

Sein Vater lacht und schiebt seinen Teller von sich. 

Hast du die Zigaretten aus Deutschland mitgebracht? fragt er.

Frankie nickt, holt die Stange Marlboro Gold aus seiner Tasche im Flur und legt sie vor seinen Vater auf den Tisch. 

Du glaubst gar nicht, sagt sein Vater, was Zigaretten hier mittlerweile kosten.

Zwölf fünfzig die Packung, sagt Frankie.

Kannst du dir das vorstellen, sagt sein Vater. 

Hör auf zu rauchen, sagt Frankie, ganz einfach.

Sein Vater brennt sich eine Zigarette an, inhaliert tief, bläst den Rauch gegen die Decke und blickt ihm nach, wie er sich im Raum verteilt. 

Ich habe für deine Mutter alles aufgeschrieben, sagt sein Vater, an was ich mich erinnere. Wie wir aus der Einzimmerwohnung am Jaeckle-Platz in die Siedlung gezogen sind, nachdem du auf die Welt gekommen bist. Das Außenklo im Treppenhaus in der alten Wohnung, wie sie geächzt hat im neunten Monat mit dir, musste sie nachts raus, die dicke Strickjacke aus Schafswolle, die ihr Nell gehäkelt hat, hing immer neben der Tür, und wie oft sie Blasenentzündung trotzdem gehabt hat wegen der Kälte auf dem Klo. Von den Jahren in der Siedlung, dem gelben Licht, dass im Sommer zwischen den Reihen der Blocks einfiel, dem Grillplatz auf der Grünfläche hinter unserem Haus; von Bilder-Dieter nebenan mit den vielen Tattoos, der seine Frau und seine Kinder verprügelt hat mindestens einmal im Monat, wie deine Mutter die ins Frauenhaus gebracht hat mitten in der Nacht, wie oft weiß ich gar nicht mehr, wie die dumme Nuss nach zwei, spätestens drei Tagen wieder bei Dieter vor der Tür stand, immer noch ganz blau und grün im Gesicht; wie wir dir das Fahrradfahren beigebracht haben und deine Mutter mit einer Fahne, auf der Frankie Go! stand, neben dir hergelaufen ist und wir am Abend Pizzaessen waren und der Kellner dir noch eine Medaille gegeben hat, die sie ihm vorher zugesteckt hat. Sie hat das immer geschafft, aus was ganz Normalem, was Besonderes zu machen.

Sein Vater inhaliert und blickt zum Fenster, auf dem sich die Küche und er und Frankie am Tisch sitzend spiegeln. 

Du hättest einen Roman schreiben sollen, sagt Frankie.

Dafür fehlt mir die Disziplin, sagt sein Vater und lächelt. 

Und warum verbrennst du die alle jetzt? fragt Frankie.

Deine Mutter ist glücklich mit ihrem neuen Mann, sagt sein Vater, was braucht sie meine Erinnerungen.

Sie fragt mich immer nach dir, sagt Frankie.

Sein Vater hebt die Schultern, lässt seine Kippe in seine Teetasse fallen. Sie erlischt mit einem Zischen. 

Das hat sie immer gehasst, sagt Frankie.

Nicht nur das, sagt sein Vater. 

Steht in allen Briefen das gleiche ungefähr? fragt Frankie.

Nein, sagt sein Vater, das sind hunderte Seiten.

Ich würde sie gerne lesen, sagt Frankie.

Sein Vater greift in seine Hosentasche und legt ein Smartphone auf den Tisch.

Du musst mir helfen, sagt er, ich will WhatsApp und Signal da drauf haben. Und Facebook. Mary meint, ich könnte alte Freunde finden in Facebook

Kann schon sein, sagt Frankie. 

Machst du mir das drauf? fragt sein Vater, und ich mach dein Bett.

Er steht auf und geht aus der Küche. Frankie aktiviert den Bildschirm des Smartphones und entsperrt es. Er hört, wie sein Vater im Wohnzimmer Kohle ins Feuer wirft, bevor er die knarzenden Treppen nach oben geht. Frankie installiert die Apps und meldet seinen Vater an, legt ihm ein Profil auf Facebook an.

Ich muss ein Foto von dir machen als Profilbild, ruft er nach oben.

Ich muss mich erst rasieren, antwortet sein Vater.

Frankie legt das Telefon auf den Küchentisch, nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und geht ins Wohnzimmer. Hier ist es warm, stickig, die Kohle im Kamin glüht. Der Eimer mit den Briefen ist leer. Ein Haufen Asche um die Glut. Ein paar Reste des Papiers glimmen noch weißlich. Frankie tritt näher und blickt auf das verbrannte Papier. Wie ein Schatten auf manchen Bögen noch die Tinte der Schrift zu entziffern. Er nimmt einen großen Schluck von seinem Bier. Er denkt an die ganzen Erinnerungen, die hier verloren sind und fragt sich, ob seine Mutter dieselben Momente so erinnert wie sein Vater. Wahrscheinlich hätte sie beim Lesen den Kopf geschüttelt. Vielleicht haben sich die Erinnerungen seines Vaters verändert, als er sie aufgeschrieben hat. Frankie denkt daran, wie er einen Abschiedsbrief an eine Ex-Freundin geschrieben hat und ihn dann nie absendete, weil ihm alles, was ihm vorher so viel bedeutete, nach dem Aufschreiben belanglos vorgekommen war. Es war die Tinte nicht wert, die Anstrengung nicht wert, auf Papier gebracht zu werden. Er denkt an seine Eltern, die beide nicht das geworden sind, was sie wollten, von dem sie geträumt hatten. Is a dream a lie, if it don’t come true, or is it something worse, geht es ihm durch den Kopf. Vielleicht hat seine Mutter tatsächlich ebenso alles aufgeschrieben und verbrannt. Sie würde das Papier aber im Garten verbrannt haben, zehn Meter vom Haus entfernt, damit ja kein Rauch nach innen zieht. Sein Vater kommt nach unten. Er trägt schon seinen Pyjama.

Mein Telefon? fragt er.

In der Küche, sagt Frankie.

Good night, sagt sein Vater, machst du alles aus?

Ja, sagt Frankie, good night.

Love you, sagt sein Vater. 

Er hört ihn noch in der Küche, dann auf den Treppen nach oben, dann schließt er die Tür zu seinem Zimmer. Frankie trinkt sein Bier aus, stellt das Gitter vor den Kamin und löscht das Licht. Er nimmt seine Tasche, die noch im Flur auf dem Boden steht. Am Treppengeländer, auf einem Kleiderständer neben der Badezimmertür hängen Klamotten seines Vaters. Völlig wahllos. Ein Wintermantel. Eine Badehose. Socken. Ein T-Shirt voller Farbspritzer. Hier oben riecht es wie in einem Second-Hand-Kleiderladen. Frankie öffnet die Tür zum Gästezimmer. Eine elektrische Heizdecke ausgebreitet auf seinem Bett, die Heizung an, das Fenster auf kipp. Auf dem Kopfkissen eine Karte und der Füller seines Vaters, der wie ein altes, poliertes Schmuckstück aussieht, mit einer Patina, die dem Füller eine Lebendigkeit gibt, als schlage in ihm ein Herz so alt und schön wie die Zeit. I don’t need this anymore, steht auf der Karte, now that I have WhatsApp an all this stuff. Maybe it’s of use for you. XXX, Dad. 

Frankie schraubt den Deckel vom Füller und betrachtet die goldene Feder. Sie glänzt, reflektiert das Licht der Glühlampe. Er schließt die Augen und überlegt, wem er damit schreiben könnte? Und er fragt sich ernsthaft, ob mit diesem Füller seine Handschrift der seines Vaters ähneln würde? Er öffnet die Augen wieder und blinzelt gegen das Licht, das sich in der Feder bricht wie ein winziger Stern. An der Spitze der Feder schimmert ein grüner Tropfen Tinte, löst sich und fällt zu Boden.