montblanc starwalker

von Markus Bundi

Zeitweiliges Aufscheinen 

Steckte das Gute im Pelikan, würde das Gültige nicht stets abschmieren. – Mindestens eine Generation von Linkshändern dachte so und brach die Übung zum frühestmöglichen Zeitpunkt ab. 

Mein Verhängnis nahm seinen Anfang an dem Tag, als mir die erste Füllfeder ausgehändigt wurde, ein roter Pelikan; im zarten Alter von sieben Jahren geschah das und im dümmsten Moment, wie ich heute weiss. Die Chefpädagogen hatten zwar damals entschieden, man wolle Linkshänder inskünftig nicht mehr umschulen, also nicht mehr zwingen, mit der falschen rechten Hand zu schreiben, doch am Schreibgerät hielten die hohen Herren und in der Folge auch meine Lehrerin, das Fräulein Reich, unerbittlich fest. 

Du kannst das Fliessblatt noch so fingerfertig einklemmen, vorzugsweise zwischen kleinem Finger und Ringfinger, und das eben geschriebene Wort wippend, eins nach dem andern, mit der Handkante abtupfen, die Schmiererei ist unvermeidlich. Jedes gutgemeinte Nachjustieren verschlimmerte meine Lage: Man stelle sich ein hyperaktives Kind vor, dem nahegelegt wird, doch langsamer zu arbeiten, weil mit dem schmaleren Federköpfchen dann doch auch weniger Tinte floss, infolgedessen das Geschriebene auch schneller eintrocknete. In wenigen Wochen mutierte ich zum tränenreichen Versuchskaninchen, war ich doch der einzige „Verkehrte“ in der Klasse, gab mir zunächst gewiss redlich Mühe, was sage ich, alle erdenkliche Mühe, doch je spitzer die Feder, desto häufiger blieb ich hängen. Anatomie mal Mechanik, angewendet auf eine Schrift, die von links nach rechts verläuft, da wäre als Unterlage schon eine Glasplatte vonnöten gewesen, damit der Verschleiss der Federn in erträglichen Grenzen geblieben wäre. Da bleibst du unweigerlich stecken, fast täglich, die allerkleinste Unachtsamkeit genügt, und der Widerstand der Papierfasern reicht aus, actio gleich reactio, um dem metallenen Vorsatz einen rechten Winkel zu verpassen. Das lässt sich freilich drei- oder viermal geradebiegen, dann aber ist Schluss – und nicht nur das Schreibgerät ist zerstört.

Ich bin kein Psychologe, meine aber schon, dass diese Erfahrung in den ersten Schuljahren mich vorübergehend zum Zahlenmenschen werden liess. Meine Schreibunfertigkeit trug fraglos dazu bei, dass ich bis zu meinem 18. Lebensjahr freiwillig nichts las, nicht einmal Comics. Um Schuldzuweisungen geht es mir allerdings nicht. Es mag eine Vielzahl anderer plausibler Gründe geben, warum ich mich auf einen Umweg begab, der so weit führte, dass mir der Chemielehrer gegen Ende des Gymnasiums nahelegte, ich solle doch ein Chemiestudium anfangen. Mein Interesse am Erzeugen unterschiedlichster Flammfarben war in der Tat ausserordentlich. Nichts anderes hatte mich in den Jahren meiner Schulkarriere dazu bewegt, mich auch nur eine Stunde zusätzlich in irgendwelchen Unterrichtszimmern aufzuhalten. Für die Flammfarben jedoch stand ich gar während der Freizeit im Labor der Schule. Darüber könnte ich noch heute einen eigenen Traktat schreiben, euphorisch und ausufernd, schieb das jetzt aber ein weiteres Mal auf. 

So oder so: Ich war fehlgeleitet, und war es doch nicht ganz. Die Faszination für Flammfarben hängt nicht in erster Linie an chemischen Formeln, vielmehr geht es um die menschliche Wahrnehmung im Unterschied zur Fotografie und also um die Frage, warum gibt das mit der Kamera erstellte Bild der Flamme die Farben nicht so wieder, wie ich sie selbst gesehen habe. (Nun, der „Fehler“ lag aller Wahrscheinlichkeit nach an der Abstimmung des Farbmischkopfs des Vergrösserungsgeräts, sag ich jetzt für alle, die noch eine Ahnung von Analogfotografie haben. Wer den Versuch heute – sprich digital – wiederholen möchte, muss sich entsprechend um die white balance kümmern; dann könnte es was werden. Und auf die Faszination folgt womöglich eine Irritation: Selbstverständlich lässt sich ein Bild solange bearbeiten, bis es den Anschein erweckt, das zu zeigen, was man selber sah. Wie sieht es aber mit der Realität aus? Wie verhält sich das Erscheinende zur Ursache der Erscheinung?) Wegen solcher Fragen, so vermute ich heute, fand ich eines Tages zurück zu den Buchstaben.

Doch zurück auf Feld 1: Die schwierige Beziehung zum Pelikan, die mit zusätzlichen Schönschreibheften einherging (in denen immer vorgeschrieben war, wie das Wort auszusehen hatte, so dass dem Schüler die Diskrepanz sogleich ins Auge sprang), führte eines Tages dazu, dass ich zum Schnüffler wurde. Ritalin gab’s damals noch nicht, ich hatte jedoch mit dem Wechsel in die dritte Klasse einen Lehrer erwischt, der offenbar verstand, welche Energien in mir wirkten. Nach wenigen Wochen schon hatte er mich zum Assistenten befördert. Zum einen war dieser Lehrer – glückliche Fügung – Prorektor an der Schule, hatte deswegen zwar kein eigenes Büro, aber immerhin einen Telefonanschluss, der sich im Treppenhaus befand, auf derselben Etage wie das Schulzimmer, versteht sich, quasi um die Ecke. Zum andern reichte ihm nicht immer die Zeit, noch vor Unterrichtsbeginn die erforderlichen Blaupausen zu erstellen. Die Schule zeigte sich mir alsbald in einem anderen Licht. Wann immer das Telefon läutete, durfte ich aus dem Zimmer stürmen, den Anruf entgegennehmen und gewissermassen die Vorverhandlungen führen, und so manches Mal lief ich mit den Matrizen des Lehrers ins Nebengebäude und startete den Kopiervorgang. Steilvorlangen, das eine wie das andere, denn ich lernte – wie nebenbei – kommunizieren und den Wert der Vervielfältigung schätzen (der Geruch ist mir noch heute in der Nase). 

Keine Frage, dieser Lehrer hat mich nicht nur verstanden, er hat mich auch geprägt, zum Vermittler gemacht. Wenn ich mir heute überlege, wie ich in sehr jungen Jahren, ich war damals 26, habe Literaturredaktor werden können, so kenne ich die Antwort darauf sehr genau.

Was den Umweg betrifft: Als der Übertritt ins Gymnasium anstand, hatte ich mich längst auf Zahlen kapriziert, entschied mich für das entsprechende Profil, kam aufgrund der Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung ins Straucheln und verlor mich zeitweilig in der Quantenmechanik. Womöglich war das damals ein voreiliger Schluss, als ich glaubte, in eine Sackgasse geraten zu sein, die Zahlen für tot erklärte und für unbestimmte Zeit – die Beweggründe dafür sind mir noch immer schleierhaft – in Kafkas Erzählungen abtauchte. Zerrissenheit ist ein grosses Wort, mittlerweile aber scheue ich den Gebrauch nicht mehr. Als ich mich allerdings für Germanistik einschrieb, hätte ich keine Gründe dafür angeben können, für die Philosophie, der ich dann nach wenigen Semestern den Vorzug gab, schon eher. Wie auch immer, die Geschichte kulminierte in einer Lizentiatsarbeit über „Propensitäten“, einer kritischen Erörterung von Karl Poppers Studien zum Indeterminismus beziehungsweise der Bedingungen der Möglichkeit eines freien Willens – und ich frage mich bis heute, ob mein Professor die Genialität meiner Arbeit tatsächlich übersehen hat. Was ich von ihm allerdings übernommen habe, ist eine Haltung dem gegenüber, was sich festhalten lässt: Er sprach, wenn er denn ausnahmsweise seine eigene Sicht der Dinge darlegte, vom „jüngsten Stand seiner Irrtümer“. Das wiederum hing mit der Frage zusammen, die ihn latent oder in leuchtenden Momenten aktual beschäftigte: „Warum hat Platon seine ungeschriebene Lehre nicht aufgeschrieben?“ 

Die Antwort ist so einfach wie beängstigend: Wahres Wissen lässt sich nicht festhalten. Das hat allerdings nichts mit einer Hermetik oder mit der Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens zu tun. Der Grund liegt in der Dynamik als solches, oder vielleicht treffender: in der tieferen Einsicht, was Dialektik vermag. – Ich rätsle noch heute darüber, welcher Dynamik oder Dialektik ich meinen Wechsel vom Kulturredaktor zum Gymnasiumlehrer verdanke. In jedem Fall aber hat es mit Wörtern zu tun. 

Im Studium angekommen, stand ich – für mich selbst am überraschendsten – vor dem Nichts. Meine ersten zwanzig Lebensjahre hatte ich wohl mehr oder minder im Rausch zugebracht, und das Wenige, das an mir hängen geblieben war, hatte ich erfolgreich verdrängt. Kurzum: Ich hatte keine Ahnung. In den ersten Semestern wurde mir schonungslos aufgezeigt, dass ich unfähig war, genau zu lesen, geschweige denn zu verstehen. Ich entschied mich gegen den Studienabbruch und für den Lateinunterricht. War’s verletzter Stolz? Doch nur eine spontane Trotzreaktion? Oder gehorchte ich lediglich den universitären Bedingungen, die ausgewiesene Lateinkenntnisse für den erfolgreichen Abschluss meines Studiums vorsahen? 

Wäre ich damals schon in der Lage gewesen, genauer hinzuschauen, ich hätte sofort gesehen, was in mir steckt, sprich das Anagramm meines Namens erkannt: „Bar und Musik“. Und wäre dieser inneren Bestimmung gefolgt? Damals, daran erinnere ich mich ganz gut, war ich den Konjunktiven hilflos ausgeliefert, sah mich umzingelt von widersprüchlichen Antworten, zu denen ich noch nicht einmal die Fragen kannte. Eine meiner ersten Erkenntnisse lautete sinngemäss: „Die Schwierigkeiten beginnen damit, dass wir nackt nicht überlebensfähig sind.“ Ich hatte Lichtenberg entdeckt und zu meinem ersten Studienbegleiter ernannt. Das half, brachte indes neue Probleme mit sich. In meinen Terminkalender gelangten mit einem Mal Bleistiftsätze, die über das Datum, das auf die jeweilige Seite gedruckt war, hinausgingen: „Der Mensch in einem Wort: unentschieden.“ Ja, ich hatte begonnen, genauer hinzusehen – und die richtige Härte im Umgang gefunden: Es sind jene Bleistifte, auf denen am hinteren Ende der Buchstabe B eingraviert ist, ohne Zahl und gewiss auch kein H. Nur der Buchstabe B. Das sind meine Stifte (dass das B schlicht für „Black“ stünde, wie mir unlängst jemand weismachen wollte, soll glauben, wer will).

Jahre später, ich arbeitete an einer Anthologie, meinem ersten Projekt als Herausgeber, erhielt ich einen Brief von Markus Werner, eine Absage zwar, doch in einer Handschrift verfasst, die mich staunen machte. Ich notierte damals unter dem Titel Intimität den Zweizeiler: „Die Handschrift des andern / kennen“. Eine Anmassung, keine Frage, und vielleicht deswegen setzte ich den Text kurze Zeit später in einen Band von mir. Seither scheint er gedruckt auf, schwarz auf weiss, und er wirkt noch immer nach, erweckt Skrupel, wann immer ich nur daran denke.

Worte überdecken unsere Nacktheit nur scheinbar, denn ihr Wesen ist die Entblössung. Das gilt für die mündliche Ermahnung genauso wie für den schriftlichen Verweis, offenbart sich womöglich schon in einer zärtlich vorgetragenen Bitte oder im Hauch der Ironie. Die Wirkungsfelder reichen von Ignoranz bis Selbstbetrug, Hybris und Euphemismus gehen Hand in Hand, und im vermeintlichen Begreifen verbrauchen sich Herz und Verstand (und der Reim macht es kein bisschen besser). Des einen Auszeichnung führt direkt in den Abgrund, des andern Missverständnis geradewegs zum Nobelpreis. Umwege erhöhen lediglich den (Wort-)Verschleiss. So ist das. Unvermeidlich ist das. Wir können ja gar nicht ohne Wörter. Doch allem Anschein nach sind sie in der flüchtigen Form verträglicher. Oder ist es gar die Form, die der Wahrheit am nächsten kommt? Auch deswegen, so glaube ich heute, hat Platon seine „ungeschriebene Lehre“ nicht festgehalten, sondern im Gespräch weitergegeben. Und vielleicht deswegen ist meine bevorzugte Schreibunterlage inzwischen die Wandtafel (man gedenke bitte des Linkshänders!), wie sie derzeit aus immer mehr Schulhäusern verschwindet. Wann immer es aber um Aristoteles‘ Tugend, Descartes‘ Zweifel, Kants Pflicht, Nietzsches Herdentier oder Wittgensteins Gebrauch der Sprache geht: Nirgendwo sonst entwickeln sich die Gedanken besser, treten unerwartete Beziehungen und plötzliche Widersprüche so offen zutage wie auf diesem schwarzen Grund. Denn die Kreide weiss um den genässten Schwamm, und die Schülerinnen und Schüler ahnen die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit des Dargelegten. In diesem interaktiven Raum geschieht manchmal ein kleines Wunder: Wir werden des zeitweiligen Aufscheinens dessen gewahr, was ist.

 

 

Nachtrag: Eine andere Ursache als die sprichwörtliche Ironie des Schicksals ist mir für einen der ersten Preise, den ich für meine literarische Arbeit bekommen habe, bis heute nicht eingefallen – mir wurde nämlich ein richtig teurer und edler Füllfederhalter der Marke Mont Blanc überreicht. Ich war nicht einmal im Stande, das Schreibgerät auszupacken, weiss seither aber immerhin, wie sehr mich die Zeit des Pelikans tatsächlich traumatisiert hat. Im Handumdrehen quasi reichte ich die Kostbarkeit an den Schriftsteller Christian Haller weiter. Immerhin ahnte ich, dass ihm ein solches Instrument nicht fremd war – und ja, er hat es bis heute in Gebrauch. Denn Freund Haller gehört nicht nur zu jenen Menschen, die noch Briefe schreiben, er tut dies auch von Hand. Einen anderen Trost erfahre ich auf Umwegen: Auch wenn ich selbst vielleicht nie werde mit Füllfedern Freundschaft schliessen können, so bleibe ich zumindest bewahrt vor dem Schicksal, das dem Protagonisten in einem meiner Lieblingsromane widerfährt (ja, ich bin längst zum Leser geworden, hatte zunächst während des Studiums einiges aufzuholen und bin mittlerweile einfach süchtig). Eduard, der eifrig schreibende Erzähler in Wilhelm Raabes Meisterwerk Stopfkuchen, ist eines Tages auf dem Schiff, das ihn zurück nach Südafrika bringen soll, mit der unliebsamen Tatsache konfrontiert, dass an Bord, wie ihm der Kapitän verwundert wiewohl auch peinlich berührt zu gestehen hat, die Tinte ausgeht, er also tunlichst seinen Bericht zur Mordgeschichte um den vermeintlichen Täter Quakatz und das Opfer Kienbaum zu einem gültigen Ende bringen muss. 

Und noch ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen der Pädagogik: Ich denke schon, man sollte sich vehement gegen das Wegschaffen der alten Wandtafeln wehren, jedenfalls so lange, wie es keine adäquate Alternative dafür gibt. Vielleicht aber, darauf hoffe ich, wird uns die Digitalisierung eines Tages Mittel an die Hand zur Bildung geben, die ein ähnliches Verfahren ermöglichen, sodass Intimität und Interaktivität im Vollzug, im Moment, für Augenblicke also ein Licht aufgehen lassen.