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von Perikles Monioudis

Die eigene Handschrift – ein Menschenrecht 

 

Ich kann nicht umhin, jede Papeterie, jeden Schreibwarenladen, der mir unterkommt, zu betreten. Ich nehme an, dass das mit meiner Vorliebe für Büttenpapier, kleine Notizhefte, fest gebundene Agenden und Schreibwaren sowie Schreibgeräte aller ernsthaften Fabrikate zu tun hat. 

Auch vermute ich einen weiteren Grund, einen, der sich möglicherweise aus der Haptik der Sorgfalt ergibt und diese inspirierende Dingwelt erst zu erfüllen scheint: die Verheissung auf einen Text, auf ein neues Werk, das ich schreiben werde, auf eine Mitteilung also der einen oder anderen Art, und sei es ein kurzer Satz auf einer schönen, mit Liebe editierten Postkarte. 

Nach zwei Dutzend Büchern kann ich sagen, dass für mich jeder Text mit einer handschriftlichen Notiz beginnt; und als bedürfte dieser Satz eines Beweises, besteht eines meiner Bücher ausschliesslich aus handschriftlich Notaten. 

Ich habe mir nämlich vor der Jahrhundertwende vier Städte gehend, notierend und mithin schreibend erschlossen: Alexandria, Thessaloniki, Zürich und Berlin. Als ich nach einem geeigneten Ordnungsprinzip suchte, um die Gedankensplitter, Beobachtungen, Betrachtungen, Begegnungen in Form zu giessen, merkte ich schnell, dass diese Notate bereits den erhofften Text ergaben – und nicht erst ihre narrative Umwandlung in einen Fliesstext. Die Notate waren der Text, nach dem ich suchte. 

Diese handschriftlichen Notate ergänzten einander, öffneten neue Erzählstränge, verbanden diese Stränge an anderer Stelle, bildeten einander einen doppelten und dreifachen Boden, auf dem sich gut lesen liess. Das Buch selbst wurde dann natürlich gesetzt und gedruckt; nichtsdestotrotz sehe ich noch immer meine handschriftlichen Notate vor meinem inneren Auge, wenn ich das Buch aufschlage. 

Vielen Büchern ist anzumerken, dass die Manuskripte, aus denen sie hervorgegangen sind, tatsächlich Manuskripte waren. In der Gegenwart am deutlichsten vielleicht bei Peter Handke, dessen Bücher sehr oft denselben Seitenfall aufweisen wie das Manuskript, aus dem sie gesetzt wurden. Handkes Bücher kommen mitunter mit luftigem Satzspiegel daher, mit viel Durchschuss und grosser Type – beim Lesen aber blättert man an derselben Stelle um wie der Autor beim Schreiben … hält dasselbe Tempo, den Rhythmus, ja, den Atem. 

Was manchen wie eine Remineszenz aus alten Tagen erscheinen mag, als Baudelaire und Flaubert ihre Bettwäsche für ein akzeptables Textverarbeitungssystem hergegeben hätten, hat also eine Gegenwart: die Handschrift. Aus den dicken, an vielen Stellen zusammengestrichenen, am Rand mit ganzen Absätzen versehenen Manuskripten früherer Zeiten zu schliessen, muss die Handschrift, solange sie nicht in kalligraphischer Absicht praktiziert wurde, als ungeheuer anstrengende Hervorbringung taxiert werden, der man sich heute allgemein nur dann bedient, wenn kein Handy, kein Tablett, kein Notebook greifbar ist. Gerade deswegen kann man gar nicht weit genug gehen, wenn man das Recht auf die Handschrift anmahnt. Was heute übertrieben klingen mag, kann im digitalen Zeitalter schon morgen Realität sein: die Abschaffung der Handschrift mit leisen Mitteln. 

Nein, keiner verweigert einem die eigene Handschrift. Und die «intelligenten» Maschinen tun nur so, also ob sie verstünden. Und doch: Wo wird die Handschrift bleiben, wenn man – die Epoche der Tastatur überwindend – sich schon heute mittels Spracheingabe in die mittelbare Kommunikation einschalten kann? Weshalb etwas von Hand schreiben, wenn man es auch einfach nur aussprechen kann? 

Weil dem Akt der Äusserung eine vorangehende Überlegung guttut. Zweifellos denkt man nach, bevor man spricht, und dennoch ist der Weg des Gedankens bei seiner Verfertigung ein anderer, wenn man den Gedanken mit der Hand niederschreibt; nur schon deshalb, weil damit bewusste und unbewusste Handlungen eintreten, die sich dem Gedanken überlagern, ihn konkretisieren und schliesslich, konzise, festhalten. 

Ohne diesen inneren Prozess, der zu einem veräusserlichten Prozess immer dann wird, wenn wir etwas von Hand schriftlich mitteilen, ohne diesen Prozess des Handschriftlichen also nähern wir uns dem Traum des Idioten, wonach dieser jeden und alles versteht, weil er es in seiner Selbstbezüglichkeit nur für sich versteht. Der Idiot – kein polemischer Begriff; im Griechischen bezeichnet «Idiot» nur gerade die Tatsache, dass jemand «idios» ist, also auf sich selbst bezogen, sein eigener Spiegel, Zentrum seiner selbst, von aussen nicht erreichbar. 

À propos Griechisch: Meine Eltern, Griechen aus dem kosmopolitischen Alexandria, hatten sich nach der nationalen Revolution in Ägypten für die überaus sichere Schweiz entschieden, Hab und Gut zurücklassend – aber ihre Handschrift haben sie behalten. 

Ich bin in der Schweiz geboren, im deutschsprachigen Teil, in den Alpen. Für meine Eltern stand es ausser Frage, dass sie mir und meiner Schwester zumindest die Essenz ihrer Kultur und Religion vermitteln wollten, und das haben sie auch getan. 

Genauso fraglos wollten sie sich selbst und uns so schnell wie möglich in ihrer neuen Heimat naturalisieren. Diese Ambition, die von einem starken Verlangen nach Sicherheit und Zugehörigkeit hervorgebracht worden sein musste, und folglich auch ihre Erfüllung zu beurteilen, halte ich für müssig. Tatsache ist, dass die hiesigen Sitten, Gebräuche, Rituale die meinen sind, die Landschaft meine Landschaft, die Gerüche und Farben in der Natur die mir vertrauten. Wie sonst. 

Und dennoch war es die griechische Sprache, die ich als erste gesprochen haben musste, als Kind von drei und vier Jahren. Die griechischen Wörter bezeichneten meine erste Welt. Meine Gefühle wurden, wenn von Ausdrücken, dann von griechischen erzeugt und umgekehrt – in meinem Kindchengriechisch – in ihnen gefasst.

Ich spielte zwar mit anderen Kindern vor dem Haus, aber zu meiner lingua franca wurde Schweizerdeutsch wohl spätestens im Kindergarten, mit sechs.

Seitdem lerne ich Griechisch, indem ich es an meinem Schweizerdeutsch abgleiche. Ein Wort, das ich auf Griechisch lerne, verstehe ich oft zunächst nur durch seine schweizerdeutsche Entsprechung.

Frühe Siebzigerjahre, Ostschweiz: An der Hand einmal meines Vaters, dann meiner Mutter nahm ich den Weg zum Kindergarten unter die Füsse, daneben ging meine Schwester. Noch bevor der Tag hell war, betrat ich das flache Gebäude am Rand des Dorfes. Eine Abneigung gegen den Kindergarten hatte ich schon am ersten Tag gefühlt. Obwohl die Beleuchtung im Innern mehr als ausreichend war, muteten mich die grünen Vorhänge, die kleinen Bänke und Tische, das Linoleum gelblich an. Klein und gedrungen erscheint mir das Mobiliar nicht nur in der Erinnerung. Für mich war der Tisch zu schmal, zu eng der Spielkreis. 

Während ich von den anderen Kindern auf Schweizerdeutsch begrüsst wurde, klangen in meinen Ohren die griechischen Wörter nach, die ich mit Mutter oder Vater eben noch gewechselt hatte.

Die ältere, stets mürrische Kindergärtnerin mit dem schlechten Atem – sie ass in jeder Pause Wurst – hiess mich, die Schuhe auszuziehen und in die Pantoffeln zu schlüpfen, was ich auch tat, mich von Vater oder Mutter mit einem Kopfnicken oder nicht einmal mit einem Kopfnicken verabschiedend.

Darauf formte ich die ersten schweizerdeutschen Laute des Tages. Für die kommenden sechs Stunden würde ich kein einziges griechisches Wort aussprechen.

Der Wechsel vom Griechischen ins Schweizerdeutsche fiel mir schwerer als umgekehrt. Die ersten Monate im Kindergarten fühlte ich mich existentiell allein – bei aller Elternliebe. Die fehlende Sprache taugte, mich zu verärgern, mich schliesslich grimmig und angriffslustig werden zu lassen. Ich prügelte mich öfter als andere. Um mich gleichsam verständlich zu machen, war ich derjenige, der als erster schlug.

Die Massregelungen durch die mürrische Kindergärtnerin hatte ich bald satt, mir blieb nichts Anderes übrig, als mich ihr zu beugen, ihr und jenem übergross erscheinenden Mangel, der mir – nein, nicht aus dem Griechischen – aus der fehlenden schweizerdeutschen Sprache erwachsen wollte.

Zu besänftigen vermochte mich allein die Zeit. Schon bald fand ich mich in einem Zustand wieder, der mich prägen und den ich später vermissen sollte: die Wochen – nicht Tage, aber auch keine Monate – in denen sich meine griechische und schweizerdeutsche Sprache gewissermassen die Waage hielten, mein Griechisch ganz bestimmt den Zauber des Ausschliesslichen für mich einbüsste und mein Schweizerdeutsch seinen Platz einforderte. 

Ich erlebte diese Wochen nachtwandlerisch. Das Versprechen, das in der schweizerdeutschen Sprache, in der geglückten Verständigung auch ausserhalb des Elternhauses lag, erfüllte mich, liess mich hellhörig werden, schärfte meine Sinne. 

Meine Neigung, wohl aus einer Reihe idiosynkratrischer Gründe, mit meiner um vier Jahre älteren Schwester nur noch im Dialekt zu reden, war keine Verweigerung der griechischen Sprache, im Gegenteil sorgte diese Neigung für eine Art Gleichgewicht zwischen diesen meinen Welten. Damit geriet ich sprachlich ins Lot. 

Ein ähnliches Erleben hatte ich erst dann wieder, als ich mich in meiner eigenen Handschrift zu Hause zu fühlen begann. 

Mein Schweizerdeutsch begleitete mich, legte den Weg vom Kindergarten zur Haustür im Gleichschritt mit mir zurück, blieb bei mir auch zu Hause. Meine Schwester bevorzugte, mutmasslich aus ähnlichen Gründen, ebenfalls die neue Sprache, nur mit unseren Eltern redeten wir Griechisch. Mit meinem Schuleintritt dann gewann mein Deutsch die Oberhand.

Die Wochen, da ich in den Sprachen zu gleichen Teilen fühlte, liessen mich an jenem Gleichgewicht teilhaben, das ich heute als ursächlich für meine literarische Arbeit begreife. Schweizerdeutsch und Griechisch standen für mich weder vor noch im noch nach jenem Gleichgewicht etwa für Aussen und Innen. Vielmehr verlief eine solche Grenze je durch die Sprache: sowohl mein Griechisch wie auch mein Schweizerdeutsch beschrieben für mich Innen und Aussen, auf doppelte, anhäufende, reiche Weise.

Alles, was ich als Autor hervorgebracht habe, habe ich zwar auf Deutsch geschrieben. Mein sprachliches Movens aber war jene Gleichzeitigkeit und Gleichheit meiner beiden Welten, die einander mehr als kompensatorisch begegneten, einander im Vergleich begriffen. 

Das wurde mir klar, als ich Jahrzehnte später ein Buch von mir in der griechischen Übersetzung in Händen hielt. Weit davon entfernt, dieses Buch schnell lesen zu können, erinnerte ich mich des befriedigenden Gleichgewichts, das sich nach jenen Wochen in den kindlichen Umständen auflöste, mit ihm meine als existentiell empfundene Einsamkeit.

Und hier kommt sie ins Spiel, die Handschrift. Mit acht fing ich an, Schreibblätter vollzukritzeln. Ich schrieb, als hätte es gegolten, mich damit auf irgendeine Weise über Wasser zu halten. Und das war es ja auch, denn indem ich ausdauernd und unbeirrbar Zeile um Zeile, Seite um Seite und schliesslich Schulheft um Schulheft mit meiner krakeligen Handschrift überzog, bewies ich mir zumindest, dass ich etwas herzustellen in der Lage war, das aus meinem Innersten kam: die Sprache. 

Ich schrieb Dialoge vor mich hin, selbstredend Alltägliches aus Kindermündern und von Erwachsenen Geäussertes; ich ging in der Folge zu sinnhaften Bezügen über und kam auf die Idee, Westerngeschichten zu erfinden. Ein kleiner Karl May, sah ich Männer mit schwarzen und mit weissen Stetsons auf Mustangs über die Prärie in den Sonnuntergang reiten. Genährt wurden diese meine Schreibabenteuer aber vor allem aus der Lektüre einschlägiger Comics, die sich in einer Ecke meines Zimmers stapelten. 

Ich hielt den Stift wie ein Zepter, um nicht zu sagen wie einen Colt in der Hand. Das karierte Papier der Schreibhefte entsprach der Landkarte meines Western-Reichs. Und die Freiheit der Cowboys in der unendlichen Weite der Prärie empfand ich im Akt des Schreibens selbst. 

Ein Stift reichte, ein Schulheft, und ich war ganz bei mir. Was hätte ich ohne meine Handschrift bloss getan? 

Ich verwendete in der Regel Bleistifte oder Buntstifte, selten auch Filzstifte, immer aber jene dünnen karierten Schulhefte, die es im halben Dutzend günstig zu erwerben gab. Ich schrieb am liebsten auf dem Boden, bäuchlings. Ich befleissigte mich einer Art zu schreiben, die der Écriture automatique nahekam, denn ich las kaum nochmals, was ich gerade geschrieben hatte, ich änderte selten einmal ein Wort oder strich ein unpassendes durch. Ich schrieb und schrieb, und am Ende der Seite angelangt, schaute ich kurz auf die beschriebenen Zeilen, fühlte mit dem Finger darüber, weil das gewellte Papier so schön kitzelte. 

Heute verfüge ich über eine Sammlung; nein, leider nicht aus jenen Schulheften mit den Westerngeschichten, die ich eines Tages selbst entsorgt haben muss, sondern aus den Notizbüchlein, die ich aus beinahe allen Weltgegenden zu meinem Schreibtisch zurückgetragen habe. Sie sind klein, die meisten davon kariert, schwarz, weiss, grün, blau oder rot, fadengeheftet oder geklammert, viele eher Notizheftchen denn Notizbüchlein, eines gar in zartem Rosa, ich hatte es in Damaskus erstanden, als die Stadt noch nicht zerbombt war. 

Meine Handschrift – und ich empfinde diese Tatsache als beruhigend – hat in ihren wesentlichen Zügen keine Veränderung über die Jahrzehnte erfahren, ich schreibe von Hand gewissermassen so, wie ich schon als Pennäler geschrieben habe. Davon legen einzelne Karten aus der Kindheit und die Notizhefte in meinem Fundus Zeugnis ab. Ich erkenne meine eigene Handschrift über die Jahrzehnte hinweg mühelos wieder, mehr noch, es ist, als ob das, was in einem alten Notizheft steht, gerade eben aus meiner Hand geflossen wäre. Und ist es das nicht? Welches zeitliche Ordnungsprinzip kennt die eigene Handschrift? Ist ihr unabänderlicher Charakter nicht gerade Beweis dafür, dass sie eine Entsprechung in uns selbst besitzt? 

Die Graphologie aber, sie hat mich nie interessiert. Denn sie stützt auf einem Erkenntnisinteresse ab, das nicht dem Text und also der Schrift an sich gehört, sondern der Hand, die sie aufs Papier bringt, der Person, der die Hand gehört. Dieser Hand und dieser Person wollte ich stets mit literarischen Mitteln beikommen, nicht mit psychologischen. Ich liebe die Handschrift an sich. 

Und ich versuche meinen Kindern nahezubringen, dass die eigene Handschrift ein Wert an sich ist. 

Sie unterscheidet uns voneinander, und zwar dergestalt, dass sie uns einander näherbringt. Denn es gibt keine persönlichere Nachricht als die handschriftliche. 

Das gilt aus zweierlei Gründen: Erstens, was den Verfasser und zweitens, was den Adressaten angeht. Und die Bindung, die dadurch entsteht, fällt weg, wenn der Verfasser und der Adressat auf ein standardisiertes Set von Buchstaben und Satzzeichen zurückgreifen und eben eine Tastatur verwenden. Ein «Eingabegerät», das Handschriften obsolet macht und dadurch die persönliche Unterscheidbarkeit in der Form tilgt. 

Das ist das Menetekel des digitalen Zeitalters: Mit der Handschrift verblasst auch eine wesentliche Kulturtechnik. Sie scheint nunmehr über die Ära der Tastatur hinweg ins Mündliche überzugehen, in die «Spracheingabe», die maschinelle Verständigung. 

Wenn wir hingegen einen Stift aufnehmen und uns auf Papier mitteilen, sagen wir damit aber immer auch: Ich. 

Ich. Mich gibt’s tatsächlich. Schau her, da stehe ich. Unverwechselbar!